Vergabe „light“ bei hoher Dringlichkeit

15.03.2022

Öffentliche Auftraggeber haben auch in Fällen der Notvergabe nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV so viel Wettbewerb wie möglich sicherzustellen. Sie sind verpflichtet, mehrere Angebote einzuholen und so mindestens einen „Wettbewerb light“ zu initiieren.

Ausgangslage der Entscheidung

Im Februar 2021 beabsichtigte das Land Mecklenburg-Vorpommern (Antragsgegner), den "Corona-Lockdown" durch einzelne Öffnungsschritte abzumildern. Nach Erfahrungen mit der Kontaktnachverfolgung auf Grundlage von Anwesenheitslisten in Papierform sollten die Lockerungen von einer effektiveren Form der Kontaktnachverfolgung begleitet werden.

Vida-App oder Luca-App?

Vor diesem Hintergrund recherchierte der Antragsgegner im Internet nach Systemen beziehungsweise Apps zur digitalen Kontaktnachverfolgung. Die Anwendung „Vida-App“ der Antragstellerin (Betreiberin der App) fand er dabei nicht, andere Produkte sah er als nicht zuschlagsfähig an. Er beschaffte daraufhin ohne Ausschreibung und ohne Einholung weiterer Angebote das Luca-System. Dagegen wendete sich die Antragstellerin im Nachprüfungsverfahren.

Bereits zuvor hatte die Betreiberin der Vida-App in E-Mails an die Staatskanzlei des Antragsgegners sowie an die Ministerpräsidentin auf ihre App hingewiesen. Den Nachprüfungsantrag wies die Vergabekammer zunächst zurück. Sie stellte dabei insbesondere darauf ab, dass nur das Produkt der Beigeladenen über eine Schnittstelle zu dem von den Gesundheitsämtern genutzten Programm verfüge. Bei dieser Sachlage habe die Beigeladene unmittelbar beauftragt werden dürfen, zumal die Sache gesteigert eilbedürftig gewesen sei.

Entscheidung des OLG Rostock

Unter Verweis auf das Ausbleiben jeglichen Wettbewerbs folgte das Oberlandesgericht (OLG) Rostock in seiner Entscheidung der Argumentation der Vergabekammer nicht.

Voraussetzungen der Dringlichkeitsvergabe lagen vor

Richtig sei zunächst, dass im vorliegenden Fall die Voraussetzungen der Dringlichkeitsvergabe nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV vorgelegen hätten. Es bestanden äußerst dringende und zwingende Gründe, die auch bei maximaler Abkürzung der vorgesehenen Fristen das offene und nicht offene Verfahren sowie das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb nicht zugelassen hätten. Zwar sei bereits lange vor Februar/März 2021 absehbar gewesen, dass es Bedarf für eine effizientere Kontaktnachverfolgung geben werde und hierfür insbesondere eine digitale Datenerhebung und -verarbeitung in Betracht komme. Der Antragsgegner hätte sich also zumindest rechtzeitig einen Marktüberblick verschaffen können. Andererseits habe er aber auch bis zur letzten Februarwoche 2021 noch davon ausgehen können, dass der Bund eine einheitliche Lösung bereitstellt. Insofern konnte jedenfalls von einer Dringlichkeit nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV ausgegangen werden.

Dringlichkeitsvergabe ist keine Direktvergabe ohne jeden Wettbewerb

Die Ausnahmeregelung des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV sehe allerdings keine gebundene Direktvergabe ohne jeden Wettbewerb, sondern eine Ermessensentscheidung vor, die sich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit messen lassen müsse. Der Eingriff in den Wettbewerb sei so gering wie möglich zu halten. Dies betreffe einerseits Umfang und Laufzeit des Auftrags, andererseits die Gewährleistung von so viel Wettbewerb wie möglich ("Wettbewerb light"). Hierzu seien in der Regel mehrere Angebote einzuholen.

Unzutreffend sei der Antragsgegner davon ausgegangen, er habe aus faktischen Gründen keine Konkurrenzangebote einholen müssen, weil er schlicht keine weiteren Anbieter habe identifizieren können. Das Produkt der Antragstellerin habe dem Antragsgegner bereits aus der E-Mail an die Staatskanzlei bekannt sein müssen. Somit habe die Vida-App nicht ohne Weiteres aus dem Kreis potenzieller Anbieter ausgeschlossen werden dürfen. Entsprechendes habe der Antragsgegner auch in keiner Weise dokumentiert. Der Anforderung eines Angebots stehe auch nicht entgegen, dass die Antragstellerin ihrerseits nicht ein zuschlagsfähiges Angebot, sondern nur eine Art "Initiativbewerbung" unterbreitet habe.

Vor diesem Hintergrund stellte das OLG – trotz Bestätigung der Voraussetzungen einer Notvergabe – einen Wettbewerbsverstoß fest. Dieser führte im Ergebnis zur Annahme der Unwirksamkeit des Zuschlags nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB.

Fazit

Die Entscheidung des OLG zeigt die engen Grenzen des Anwendungsbereiches von § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV auf und steht somit ganz im Zeichen des zentralen Wettbewerbsgrundsatzes aus § 97 Abs. 1 GWB. Die gewählte Begründung verdeutlicht zudem, dass selbst bei Annahme einer besonderen Dringlichkeit keineswegs auf jeglichen Wettbewerb verzichtet werden kann.

Insgesamt bleibt somit für die Vergabepraxis festzuhalten, dass eine Anwendung der Notvergabe lediglich den Ausnahmefall darstellen kann. Selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen der Notvergabe darf zudem nicht verkannt werden, dass auch diese einen „Wettbewerb light“ vorsieht. Im Hinblick auf die drohende Unwirksamkeit des Zuschlags ist daher stets auf ausreichenden Wettbewerb zu achten.