EuGH: Auch bei einer Auftragsreduzierung ist eine Neuvergabe erforderlich

15.02.2017

Zugrundeliegender Sachverhalt

Der dänische Staat vergab im Jahr 2007 in Gestalt eines wettbewerblichen Dialogs die Lieferung eines Kommunikationssystems für alle Notfalldienste sowie die Wartung dieses Systems über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Nachdem Schwierigkeiten bei der Auftragsdurchführung auftraten
– die für den Auftrag zuständige Behörde CFB und das Ausführungsunternehmen Terma wiesen sich gegenseitig die Verantwortung dafür zu, dass der Vertrag nicht wie vorgesehen erfüllt werden
konnte – schlossen die Parteien eine Vergleichsvereinbarung ab. Der ursprüngliche Auftrag sollte auf die Lieferung eines Funkkommunikationssystems beschränkt werden. Im Rahmen der Vereinbarung verpflichteten sich beide Parteien, auf jegliche Ansprüche aus dem ursprünglichen Auftrag zu verzichten, soweit diese mit dem Inhalt des Vergleichs nicht übereinstimmten. Noch vor dem endgültigen Abschluss des Vergleichs veröffentlichte die CFB bezüglich der beabsichtigten Vergleichsvereinbarung eine Bekanntmachung für die Zwecke der freiwilligen Ex-ante-Transparenz. Ein Konkurrent erhob hiergegen Beschwerde. Das Højesteret (Oberstes Gericht) legte dem EuGH die Frage zur Entscheidung vor, ob eine wesentliche Auftragsänderung die Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens nach Art. 2 Richtlinie 2004/18/EG erfordert, wenn diese Änderung auf einer Vergleichsvereinbarung basiert, die von Seiten beider Parteien wechselseitige Zugeständnisse beinhaltet und dazu dient, einen Streit mit ungewissen Ausgang zur Störung des Vertragsverhältnisses beizulegen.

Wesentliche nachträgliche Veränderung verstößt gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung

Das Gericht stellte zunächst fest, dass es dem Grundsatz der Gleichbehandlung und der daraus folgenden Transparenzpflicht entgegenstehe, dass der öffentliche Auftraggeber und der Zuschlagsempfänger nach der Vergabe eines öffentlichen Auftrags dessen Bestimmung so verändern, dass sie sich von den Bestimmungen des ursprünglichen Auftrags wesentlich unterscheiden. Dies ist in Fällen anzunehmen, in denen (1) die beabsichtigten Änderungen den Auftrag im großen Umfang um ursprünglich nicht vorgesehene Bestandteile erweitern, diese (2) das wirtschaftliche Gleichgewicht des Vertrags zu Gunsten des Auftragnehmers ändern oder wenn (3) sie Anlass zu Zweifeln an der Auftragsvergabe geben. Letzteres ist zu bejahen, wenn im Falle, wenn diese Änderungen in den Unterlagen des ursprünglichen Vergabeverfahrens enthalten gewesen wären, entweder ein anderes Angebot den Zuschlag erhalten hätte oder andere Bieter hätten zugelassen werden können.

Bedeutende Reduzierung des Auftragsgegenstands ist eine wesentliche Veränderung

Im Hinblick auf den letztgenannten Fall stellte das Gericht dann fest, dass eine Änderung der Auftragsbestandteile, die – wie vorliegend – in einer bedeutenden Verringerung des Auftragsgegenstandes besteht, im Ergebnis dazu führen kann, dass der Auftrag für eine größere Zahl von Wirtschaftsteilnehmern durchführbar wird. Wenn nämlich der ursprüngliche Umfang des Auftrags so groß war, dass nur bestimmte Unternehmen zur Bewerbung oder Angebotsabgabe in der Lage waren, ist eine Verringerung des Umfangs geeignet, den Auftrag auch für kleinere Wirtschaftsteilnehmer interessant zu machen. Insgesamt liegt nach Ansicht des EuGH damit eine wesentliche Veränderung des Auftragsgegenstandes vor.

Geringere Anforderungen an die Leistungsfähigkeit

Darüber hinaus kann eine Reduzierung des Auftragsgegenstands, da die für einen bestimmten Auftrag gestellten Mindestanforderungen an die Leistungsfähigkeit nach Art. 44 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/18 mit dem Auftragsgegenstand zusammenhängen und ihm angemessen sein müssen, eine proportionale Verringerung der an die Leistungsfähigkeit der Bewerber und Bieter gestellten Anforderungen mit sich bringen.

Parteiwille irrelevant

Dass die Parteien vorliegend gar keine Neuverhandlung wünschten, mit dem Abschluss des Vergleichs vielmehr nur die bestandenen Schwierigkeiten bei der Auftragsdurchführung überwinden wollten, war für den EuGH unmaßgeblich. Wie das Gericht es in seinen Urteilsgründen betonte, soll es bei der Bestimmung, ob eine wesentliche Änderung des Auftrags vorliegt, allein auf objektive Gesichtspunkte ankommen.

Neues Vergabeverfahren bei wesentlicher Änderung des Auftrags

In der Folge stellte das Gericht fest, dass eine wesentliche Änderung eines öffentlichen Auftrags nach dessen Vergabe grundsätzlich nicht freihändig von dem öffentlichen Auftraggeber und dem Zuschlagsempfänger – etwa im Wege eines Vergleichs – vorgenommen werden kann, sondern zwangsläufig zu einem neuen Vergabeverfahren über den so geänderten Auftrag führen muss. Nach Ansicht des EuGH kann etwas anderes nur für Änderungen gelten, wenn diese – was aber bei dem zur Entscheidung stehenden Fall nicht vorlag – bereits in den Bestimmungen des ursprünglichen Auftrags eingeplant war.

Objektiv unsichere Aufträge rechtfertigen keine Abweichung

Auch das Vorliegen eines objektiv unsicheren Auftrags alleine kann keine Abweichung per se rechtfertigen. Wie das Gericht es in den Urteilsgründen betonte, obliegt es dem öffentlichen Auftraggeber bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, die von vornherein mit Unsicherheiten behaftet sind, nicht nur das am besten passende Vergabeverfahren zu wählen, sondern darüber hinaus auch, den Auftragsgegenstand umsichtig zu bestimmen. Hierzu gehört es auch, sich erforderlichenfalls in den Unterlagen des Vergabeverfahrens die Möglichkeit vorzubehalten, nach der Auftragsvergabe gewisse Änderungen, selbst wesentlicher Art, vorzunehmen. Der objektive unsichere Charakter eines Auftrags alleine kann nicht als ausreichende Rechtfertigung dafür herhalten, wesentliche Änderungen nach Auftragserteilung freihändig vornehmen zu dürfen.

Keine Ausnahme nach Art. 31 der Richtlinie 2004/18

Etwas anderes folgt auch nicht aus Art. 31 der Richtlinie 2004/18, die einem öffentlichen Auftraggeber im Einzelfall die Möglichkeit geben, einen Auftrag freihändig vergeben zu dürfen. Aus dem letzten Satz von Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie ergibt sich nämlich, dass Art. 31 nur in den Fällen und unter den Umständen anwendbar ist, die dort ausdrücklich genannt sind, sodass die Aufzählung der betreffenden Ausnahmen als abschließend anzusehen ist. Für den EuGH war die Annahme eines solchen Ausnahmefalls nicht erkennbar.

Insgesamt bejahte der EuGH deshalb die Vorlagefrage.

Praxistipp:

Nach der aktuellen Fassung des GWB 2016 beinhaltet § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB gar die Möglichkeit, dass auf die Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens bei Änderungen verzichtet werden kann. Allerdings müssen hierfür extreme Umstände vorliegen, die bei Zuschlagserteilung nicht absehbar waren. „'Unvorhersehbare Umstände' sind Umstände, die auch bei einer nach vernünftigem Ermessen sorgfältige Vorbereitung der ursprünglichen Zuschlagserteilung durch den Auftraggeber unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Mittel, der Art und der Merkmale des spezifischen Projekts, bewährten Praxis und der Notwendigkeit, ein angemessenes Verhältnis zwischen den bei der Vorbereitung der Zuschlagserteilung eingesetzten Ressourcen und dem absehbaren Nutzen zu gewährleisten, nicht hätten vorhergesagt werden können.“ (Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/6281. 119). Demnach hat die vorliegende Entscheidung des EuGH auch für die aktuelle Rechtslage nach der Vergaberechtsreform große praktische Bedeutung.