OLG Schleswig: Erweiterung des ursprünglichen Auftrags durch den öffentlichen Auftraggeber führt zur Ausschreibungspflicht

27.10.2015

Der Beigeladene ist aufgrund eines Vertrages vom 31. Mai 1978 mit der Durchführung des Rettungsdienstes beauftragt. Nach § 3 des Vertrages führt der Beigeladene den Rettungsdienst nach den Vorschriften des Rettungsdienstgesetzes des Landes und der dazugehörigen Landesverordnung durch, wozu "insbesondere die Sicherstellung der ordnungsgemäßen personellen und sächlichen Ausstattung der Rettungswachen" gehören. Dem Beschwerdegegner obliegt die Aufsicht über die Durchführung (§ 4). Der Vertrag hat am 01. März 1983 einen ersten, am 18. Juni 1998 einen zweiten und am 02. November 2001 einen dritten Nachtrag erhalten. In § 4 Abs. 2 des zweiten Nachtrages heißt es: "Über Anzahl und Einsatzbereitschaft von Rettungsmitteln in den Rettungswachen entscheidet der Kreis nach Anhörung des Beigeladenen. Gleiches gilt für den Fall von Veränderungen in der Stationierung von Rettungsmitteln."

Der Beschwerdegegner veranlasste Ende 2011 die Erstellung eines Gutachtens zur Überprüfung der Rettungsmittelvorhaltung im Kreisgebiet. Im Jahr 2012 wurde ein zusätzlicher Bedarf von 212 RMWStd ermittelt. Der Beschwerdegegner bat daraufhin den Beigeladenen zur "Umsetzung" um eine Erhöhung der Rettungsmittelvorhaltung um "zunächst" 194 RMWStd. Die Beschwerdeführerin rügte diesen Vorgang als eine "rechtswidrige de-facto-Vergabe" und beantragte dessen vergaberechtliche Nachprüfung. Ihr Nachprüfungsantrag wurde von der Vergabekammer Schleswig-Holstein abgewiesen. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde blieb erfolglos.Mitte Dezember 2014 erfolgte eine "endgültige" Ermittlung der bedarfsgerechten Regelvorhaltung von Rettungsmitteln. Der Kreistag des Beschwerdegegners beschloss dem Beigeladenen weitere 49 RMWStd "im Rahmen des bestehenden Vertragsverhältnisses zu übertragen". Die genannte "Aufstockung" wurde dem Beigeladenen mitgeteilt.

Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen eine sogenannte "Aufstockung" von Vorhalteleistungen für den Rettungsdienst (Notfallrettung und Krankentransport) im Umfang von 49 Rettungsmittelwochenstunden, die der Beschwerdegegner gegenüber dem Beigeladenen veranlasst hat. Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Nachprüfungsantrag sei gemäß § 101 b Abs. 1 S. 2 GWB zulässig, da die "Aufstockung" den maßgeblichen Schwellenwert überschreite. Es fehle aber am Vorliegen eines "öffentlichen Auftrags". Der Ursprungsvertrag und der zweite Nachtrag seien vergaberechtlich nicht mehr angreifbar. Das Schreiben an den Beigeladenen enthalte keinen öffentlichen Auftrag im Sinne einer "wesentlichen" Vertragsänderung. Gegen diesen Beschluss erhob die Beschwerdeführerin form- und fristgerecht sofortige Beschwerde.

Zu Recht, denn das OLG hält die sofortige Beschwerde für begründet. Die unmittelbare Beauftragung des Beigeladenen mit 49 weiteren Rettungsmittelwochenstunden (sog. "Aufstockung") sei gem. § 101b Abs. 1 Nr. 2 GWB von Anfang an unwirksam gewesen. Die Beschwerdeführerin habe fristgerecht und zu Recht geltend gemacht, dass die in "Gestalt" des Schreibens des Beschwerdegegners erfolgte "Aufstockung" der vom Beigeladenen zu erbringenden sog. Vorhalteleistung von 49 Rettungsmittelwochenstunden als Vergabe eines öffentlichen Auftrags anzusehen sei, die ohne ein rechtlich erforderliches Vergabeverfahren erfolgt sei. Die „Aufstockung“läge oberhalb des Schwellenwerts nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 GWB, § 2 Abs. 1 Satz 1 VgV i. V. m. Art. 2 Nr. 1 b der VO(EU) Nr. 1336/2013 und sei als öffentlicher Auftrag i. S. d. § 99 Abs. 1, Abs. 4 GWB anzusehen. Weder sei eine wirksame Vertragsänderung nach §§ 145 ff. BGB durch ein ausdrückliches Angebot und dessen kongruente Annahme, noch eine konkludente Vertragsänderungfestzustellen. Die "Aufstockung" werde nämlich nicht von der Entscheidungsbefugnis des Beschwerdegegners in § 4 Abs. 2 des zweiten Nachtrags gedeckt. Die gegenüber dem Beigeladenen "angeordnete" Leistungserweiterung im Umfang von weiteren 49 Rettungsmittelwochenstunden läge außerhalb der bestehenden Verträge. Die "Anordnung" sei somit wie ein neues Vertragsangebot zu behandeln. Die durch die "Aufstockung" bewirkte Änderung des Vertrages der Beschwerdegegnerin mit dem Beigeladenen sei auch als "wesentlich" anzusehen; sie hätte deshalb nur auf der Grundlage eines Vergabeverfahrens erfolgen dürfen. Insgesamt sei auf den Gesamtumfang der "Aufstockungen" abzustellen. Dieser überschreite eines um fast 16 % erhöhten Leistungsvolumens das Leistungsgefüge der Ursprungsverträge somit erheblich.

Praxishinweis:

Die Entscheidung zeigt, dass öffentliche Auftraggeber darauf zu achten haben, ob die einseitige Ausübung eines in den ursprünglichen Auftragsunterlagen eingeräumten und seinem Umgang nach bestimmbaren Leistungsbestimmungsrechts zu einer Vertragsänderungführt oder nicht. Wenn die Grenzen des vorab Vereinbarten gewahrt bleiben, führt eine Erweiterung zu keiner Ausschreibungspflicht. In der vorliegenden Entscheidung wurde die Überschreitung des vereinbarten Leistungsvolumens um über 16 % als erheblich angesehen und eine Missachtung des Vergaberechtes bejaht.