EuGH: Freihändige Vergabe von Krankentransportaufträgen unionsrechtskonform

05.01.2015

Das italienische Recht erkennt die Funktion von Freiwilligenorganisationen an, die zur Verwirklichung der Ziele des nationalen Gesundheitsdienstes beitragen, und regelt ihre Mitwirkung durch Rahmenabkommen und auf regionaler Ebene geschlossene Übereinkünfte. Im Jahr 2010 schloss die Region Ligurien ein Rahmenabkommen mit verschiedenen nationalen Vereinigungen für öffentliche Fürsorge (u.a. mit der ANPAS, Associazione nazionale pubblica assistenza – Nationale Vereinigung für öffentliche Fürsorge) als Vertretern der örtlichen Freiwilligenorganisationen, um die Beziehungen zwischen den Gesundheits- und Krankenhauseinrichtungen einerseits und den betreffenden Freiwilligenorganisationen andererseits zu regeln. Gestützt auf dieses Rahmenabkommen schloss die Azienda Sanitaria Locale n. 5 mit den der ANPAS angeschlossenen Organisationen Übereinkünfte über dringende Krankentransporte und Notfallkrankentransporte, ohne eine Ausschreibung vorzunehmen. Die Genossenschaften San Lorenzo und Croce Verde Cogema beantragten daraufhin, diese Übereinkünfte für nichtig zu erklären.

Der mit einem Rechtsmittel in dieser Sache befasste Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) fragt den EuGH, ob die unionsrechtlichen Vorschriften auf dem Gebiet der öffentlichen Aufträge und des Wettbewerbs eine nationale Regelung zulassen, nach der die örtlichen Behörden die Erbringung von Krankentransportdiensten vorrangig und im Wege der Direktvergabe ohne jegliche Bekanntmachung an die unter Vertrag genommenen Freiwilligenorganisationen vergeben dürfen, denen lediglich die tatsächlich entstandenen Kosten sowie ein Teil der allgemeinen (nicht unmittelbar mit der Tätigkeit des Krankentransports verbundenen) Kosten erstattet werden.

Der EuGH hat entschieden, dass dringende Krankentransportdienste vorrangig und im Wege der Direktvergabe an Freiwilligenorganisationen vergeben werden dürfen. Hierzu müsse das System tatsächlich zu den Zielen der Solidarität und der Haushaltseffizienz beitragen.

Nach Auffassung des EuGH gilt die Vergaberichtlinie 2004/18/EG für öffentliche Aufträge über die Erbringung von dringenden Krankentransport- und Notfallkrankentransportdiensten (Anhang II Teil A für die Beförderungsaspekte und Anhang II Teil B für die medizinischen Aspekte). Diese Richtlinie gelte für öffentliche Aufträge, deren Wert bestimmte Schwellenwerte (193.000 Euro für die meisten Dienstleistungsaufträge) erreicht oder überschreitet. Das regionale Rahmenabkommen falle unter den Begriff des öffentlichen Auftrags, und zwar unabhängig davon, dass es im Namen von Einrichtungen ohne Gewinnerzielungsabsicht geschlossen wurde und dass die Vergütung auf den Ersatz der entstandenen Kosten beschränkt bleibt (EuGH, Urt. v. 19.12.2012 - C-159/11 "Ordine degli Ingegneri della Provincia di Lecce u. a.").

Ist der Wert des regionalen Rahmenabkommens höher als der in der Richtlinie festgelegte Schwellenwert, kämen sämtliche in dieser Richtlinie vorgesehenen Verfahrensvorschriften zur Anwendung oder auch nicht, und zwar je nachdem, ob der Wert der Transportdienstleistungen den Wert der medizinischen Dienstleistungen überschreitet oder nicht. Falls der Wert des Rahmenabkommens höher ist als der in der Richtlinie festgelegte Schwellenwert und der Wert der Transportdienstleistungen den der medizinischen Dienstleistungen überschreitet, lasse die Richtlinie es nicht zu, dringende Krankentransportdienste vorrangig und im Wege der Direktvergabe an Freiwilligenorganisationen zu vergeben. Werde dieser Schwellenwert jedoch nicht erreicht oder sei der Wert der medizinischen Dienstleistungen höher als der Wert der Transportdienstleistungen, kämen nur die sich aus dem AEU-Vertrag ergebenden allgemeinen Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung sowie das Transparenzgebot zur Anwendung; Voraussetzung sei allerdings, dass an diesem Auftrag ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse bestehe.

Ein System vertraglicher Vereinbarungen, wie es von der Region Ligurien eingeführt wurde, laufe letztlich den Zielen des freien Dienstleistungsverkehrs zuwider und behindere die Öffnung des öffentlichen Auftragswesens für einen unverfälschten und möglichst umfassenden Wettbewerb. Eine solche Regelung halte nämlich andere Einrichtungen als Freiwilligenorganisationen von einem großen Teil des Marktes fern und wirke sich nachteilig auf Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten aus. Sofern sie nicht durch objektive Umstände gerechtfertigt ist, stelle eine solche Ungleichbehandlung eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar.

Das Unionsrecht lasse jedoch die Befugnis der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihres Gesundheitswesens und ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt; das Gleiche gelte für die Grundsätze der Universalität, der Solidarität, der Erschwinglichkeit und der Geeignetheit, die der Art und Weise, wie die Krankentransportdienste der Region Ligurien organisiert sind, zugrunde lägen. Folglich könne das Ziel, aus Gründen der öffentlichen Gesundheit eine ausgewogene, allen zugängliche ärztliche und klinische Versorgung aufrechtzuerhalten und, so weit wie möglich, jede Verschwendung finanzieller, technischer und menschlicher Ressourcen zu verhindern, eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen.

Die Mitgliedstaaten dürften ihrerseits die Ausübung der Grundfreiheiten im Bereich der Gesundheitsversorgung nicht ungerechtfertigt beschränken. Sie dürften auf private Organisationen ohne Gewinnerzielungsabsicht zurückgreifen, ohne Ausschreibungen durchzuführen, sofern die Tätigkeit der Organisationen nur in dem Maße von Erwerbstätigen ausgeübt werde, wie es für ihren geregelten Betrieb erforderlich sei. Zudem dürften die nationalen Rechtsvorschriften keine missbräuchlichen Praktiken der Organisationen oder ihrer Mitglieder decken. Unter diesen Bedingungen könne ein Mitgliedstaat die Auffassung vertreten, dass der Rückgriff auf Freiwilligenorganisationen dem sozialen Zweck der dringenden Krankentransportdienste entspreche und es ermögliche, die mit diesen Diensten verbundenen Kosten zu beherrschen.

Daher lasse der AEU-Vertrag eine nationale Regelung zu, nach der die Erbringung von Krankentransportdiensten vorrangig und im Wege der Direktvergabe ohne jegliche Bekanntmachung an die unter Vertrag genommenen Freiwilligenorganisationen vergeben werde, soweit der rechtliche und vertragliche Rahmen tatsächlich zu dem sozialen Zweck und zu den Zielen der Solidarität und der Haushaltseffizienz beitrage.

Es sei Sache des nationalen Gerichts, die zuletzt genannten Punkte zu prüfen.