OVG Koblenz: Beweislast für Baurechtmäßigkeit einer Anlage (hier nach Art. 676 Code Civil)

16.01.2013

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer bauaufsichtlichen Verfügung, mit der den Klägern die Verschließung eines Fensters in einer Brandwand aufgegeben wurde. Gegen diese Verfügung setzten sich die Kläger in erster Linie mit der Argumentation zur Wehr, die Fensteröffnung in der Brandwand sei bestandsgeschützt, weil sie über einen längeren Zeitraum formell und materiell rechtmäßig gewesen sei. Hierzu legten sie Kopien aus dem Urkataster von 1838 vor und machten geltend, aus diesem Plan ergebe sich, dass sowohl ihr Grundstück als auch dasjenige der Beigeladenen (Nachbarn) damals bereits bebaut gewesen seien und die Grundstücksgrenzen sich bis heute nicht verändert hätten. Dabei sei ihr Hausanwesen in ca. 60 cm Abstand zum nachbarlichen Grundstück erbaut worden und habe daher mit dem im Jahre 1838 geltenden Code Civil im Einklang gestanden, wonach man Häuser mit einem Abstand von 30 cm zur Grundstücksgrenze zur Gewährleistung des Regenwasserabflusses (Traufrecht) habe bauen dürfen.

Das Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstraße hatte der Klage durch Urteil vom 5. März 2012 stattgegeben und die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Das OVG Koblenz hob auf die Berufung der Beklagten hin diese erstinstanzliche Entscheidung auf und wies die Klage ab. Die Verfügung finde ihre Rechtsgrundlage zwar nicht in § 85 Abs. 1 Satz 1 der Landesbauordnung - LBauO -, wohl aber in § 59 Abs. 1 Satz 1 LBauO.

Im Hinblick auf § 85 Abs. 1 S. 1 LBauO begründet das Gericht seine Entscheidung wie folgt:

Nach dieser Vorschrift können bei rechtmäßig begonnenen oder bestehenden baulichen Anlagen sowie anderen Anlagen und Einrichtungen im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 2 nachträglich Anforderungen nur gestellt werden, wenn dies zur Abwehr von erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit, insbesondere für Leben oder Gesundheit, erforderlich ist.

Streitig sei bereits, ob diese Vorschrift auf lediglich materiellen Bestandsschutz genießende bauliche Anlagen und Einrichtungen Anwendung finden könne, oder ob die Vorschrift nur eine Einschränkung der formellen Legalisierungswirkung der Baugenehmigung bewirke, bei genehmigungsbedürftigen Vorhaben also das Bestehen einer Baugenehmigung voraussetze. Nach Ansicht des OVGs gilt die Vorschrift auch für die Fälle, in denen von der genehmigten oder bislang materiell legalen Nutzung einer Anlage Gefahren ausgehen. Indessen seien die materiellen Voraussetzungen für den Erlass nachträglicher Anordnungen nach § 85 Abs. 1 Satz 1 LBauO relativ streng: Um ein bauaufsichtliches Einschreiten mit dem Ziel der Veränderung rechtmäßig bestehender baulicher Anlagen und Einrichtungen zu rechtfertigen, genüge nach wohl allgemeiner Meinung eine bloß abstrakte Gefahr für erhebliche Rechtsgüter nicht, sondern es müsse eine Gefahr für Leben und Gesundheit im konkreten Fall vorliegen. Zwar spreche vorliegend Einiges dafür, dass angesichts der engen Gebäudesituation und des Umstands, dass der mit einem einfachen Fenster in der Brandwand versehene Raum im Anwesen der Kläger als Küche genutzt werde und nach Angaben im Verwaltungsverfahren überdies mit einem Ofen zum Heizen mit Holz und Briketts ausgestattet sei, ein konkretes Gefährdungspotential für Leben und Gesundheit gegeben sein könnte. Indessen habe die Beklagte - wie das Verwaltungsgericht insoweit zu Recht bemängelt habe - keinerlei konkrete, fachkundige Feststellungen vor Ort zur Brandgefahr und zur Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts getroffen.

Da § 85 Abs. 1 LBauO die Entscheidung über die Anordnung nachträglicher Anforderungen in das Ermessen der Bauaufsichtsbehörde stelle, die Beklagte aber die Anwendung der Vorschrift im Ausgangsbescheid nicht erwogen und im Widerspruchsbescheid ausdrücklich ausgeschlossen habe, fehle es hier im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung an einer auf diese Vorschrift gestützten Ermessensentscheidung der Beklagten, zu der im gerichtlichen Verfahren nach § 114 Satz 2 VwGO noch ergänzende Erwägungen hätten angestellt werden können.

Anders als das Verwaltungsgericht entschieden habe, findet die Verfügung jedoch ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 Satz 1 LBauO, der die Bauaufsichtsbehörden nach Art einer Generalklausel zum Erlass erforderlicher Maßnahmen ermächtige.

Zwar begegne die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die Fensteröffnung in der Grenzwand zu keinem Zeitpunkt genehmigt worden sei, insbesondere von der Genehmigung des östlichen Anbaus vom 2. Juni 1975 nicht erfasst wurde und auch das Bestehen einer Baugenehmigung nach altem Recht (etwa nach der Bayerischen Bauordnung von 1901) von den insoweit darlegungs- und beweispflichtigen Klägern nicht dargelegt werden konnte, keinen Bedenken. Dem Verwaltungsgericht könne jedoch nicht darin gefolgt werden, dass die Kläger sich hinsichtlich der Fensteröffnung auf materiellen Bestandsschutz berufen könnten.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und der wohl herrschenden Meinung bestehe ein Bestandsschutz aus materieller Baurechtmäßigkeit (sog. materieller Bestandsschutz) für solche Bauvorhaben, die zwar nicht formell legalisiert (genehmigt) wurden, aber dennoch entweder im Zeitpunkt ihrer Errichtung oder zumindest später über einen hinreichend langen Zeitraum dem materiellen Recht entsprochen haben. Die Kläger könnten indessen nicht mit Erfolg geltend machen, dass das in der westlichen Grenzwand ihres Anwesens befindliche, einfach verglaste und zu öffnende Fenster im Errichtungszeitpunkt und danach über einen hinreichend langen Zeitraum dem materiellen Recht entsprochen habe.

Festzuhalten sei zunächst, dass die Fensteröffnung jedenfalls seit dem Inkrafttreten der Bayerischen Bauordnung vom 17. Februar 1901 - BayBO 1901 - im Gebiet der Pfalz und auch zu jedem späteren Zeitpunkt bis heute immer materiell baurechtswidrig gewesen sei. Ein materieller Bestandsschutz der Fensteröffnung komme danach nur in Betracht, wenn positiv festgestellt oder zumindest aufgrund von Vermutungsregeln oder zu Gunsten der Kläger eingreifender Beweiserleichterungen angenommen werden könnte, dass das Anwesen der Kläger mit der heutigen Fensteröffnung bereits unter der Geltung der einschlägigen Bestimmungen des französischen Code Civil - CC -, wie er in den seit dem Frieden von Lunéville von 1801 von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebieten galt, materiell legal errichtet wurde. Davon könne indessen nicht ausgegangen werden, wie das OVG weiter ausführt:

„Grundsätzlich gilt, dass ein Ordnungspflichtiger, der sich gegenüber einer bauaufsichtlichen Verfügung auf (gegebenenfalls nur materiellen) Bestandsschutz beruft, für die behauptete Rechtmäßigkeit der Anlage beweispflichtig ist und im Falle der Unaufklärbarkeit die (materielle) Beweislast trägt (vgl. z. B. BVerwG, Urteil vom 23. Februar 1979 - IV C 86.76 -, BauR 1979, 228und juris, Rn. 14 sowie Beschluss vom 19. Februar 1988 - 4 B 33.88 -, juris, Rn. 3). Dies gilt auch bei älteren baulichen Anlagen, bei denen auch eine Beweiserleichterung nach den Regeln den Anscheinsbeweises nicht in Betracht kommt, weil die Gestaltung und Nutzung von Gebäuden auf von bewusstem individuellen Verhalten gesteuerten Vorgängen beruht und daher keinen typischen Ablauf darstellt, der von menschlichem Willen unabhängig gleichsam mechanisch abläuft (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30. März 2011 - 7 A 848/10 -, juris, Rn. 17, im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 23. Februar 1979, a.a.O., Rn. 15). Anders als im angefochtenen Urteil dargestellt, ergibt sich aus dem zitierten Beschluss des OVG NRW kein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Inhalts, dass für den Ordnungspflichtigen bei älteren baulichen Anlagen Beweiserleichterungen gelten, wenn sich das Vorliegen des Bestandsschutzes nach der Lebenserfahrung aufdrängt. Das OVG Nordrhein-Westfalen hat in seinem Beschluss zunächst nur die Rechtsauffassung der damaligen Klägerin referiert (a.a.O., Rn. 16), wonach deren bauliche Anlage materiellen Bestandsschutz genieße, weil es sich um ein „historisches Gebäude“ handele, das in einer Zeit errichtet worden sei, zu der förmliche Baugenehmigungen nicht erteilt worden seien, und weil in einem solchen Fall anhand der Gebäudestruktur, der konkreten Ausgestaltung sowie der Berücksichtigung der zeitgemäßen Nutzung eines derartigen Gebäudes zu bewerten sei, welche konkrete Nutzung sich aufdränge. Dieser Auffassung hat das OVG Nordrhein-Westfalen sodann (a.a.O., Rn. 17) eine Absage erteilt und bekräftigt, dass der Grundsatz, wonach ein Ordnungspflichtiger, der sich gegenüber einer bauaufsichtlichen Verfügung auf Bestandsschutz berufe, hierfür im Falle der Unaufklärbarkeit die Beweislast trage, auch bei älteren baulichen Anlagen gelte. Nachfolgend hat es auch die Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises in solchen Fällen verworfen.

Allerdings wird in der Rechtsprechung auch vertreten, dass bei „sehr alten Anlagen“ eine Rechtsvermutung dafür bestehe, dass sie seinerzeit ordnungsgemäß und in Übereinstimmung mit den damals bestehenden Gesetzen errichtet worden sind (vgl. VG Köln, Beschluss vom 16. Juli 2012 - 2 L 786/12 -, juris, Rn. 20 unter Hinweis auf OVG NRW, Urteil vom 30. Juli 1964 - VII A 656/62 - ,BRS 15, Nr. 25). Das zitierte Urteil des OVG NRW nimmt hinsichtlich dieser Vermutungsregel auf ein Urteil des Preußischen OVG aus dem Jahre 1915 Bezug; darin hatte dieses bekräftigt, es sei „stets davon ausgegangen, dass eine wohlbegründete Vermutung dafür spricht, dass Einrichtungen, insbesondere solche baulicher Natur, die seit unvordenklichen Zeiten unter den Augen der Behörden bestanden haben und von diesen fortdauernd als zu Recht bestehend behandelt worden sind, seinerzeit auch ordnungsgemäß und in Übereinstimmung mit den bestehenden Gesetzen zustande gekommen sind“ (Preußisches OVG, Urteil vom 4. Mai 1915, PROVGE 68, 369; zitiert nach Walter Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1948, S. 223). Folgt man dem, so setzt das Eingreifen einer solchen Vermutungsregel allerdings voraus, dass der Ordnungspflichtige, der sich auf sie beruft, die Existenz der konkreten baulichen Einrichtung, um deren materielle Legalität im Errichtungszeitpunkt es geht, zu der Zeit, an die die Vermutung anknüpfen soll, beweist. Demnach müssten die Kläger hier zunächst den Nachweis führen, dass das streitgegenständliche Fenster bereits zu einer Zeit, zu der noch kein grundsätzliches Verbot von Öffnungen in Brandwänden bestand, in der fraglichen Grenzwand existierte. Nur an die nachgewiesene Existenz der baulichen Einrichtung „Fenster in der Grenzwand“ zu jener Zeit könnte die Rechtsvermutung ihrer seinerzeitigen Legalität anknüpfen. Eine solche Beweisführung muss jedoch vorliegend von vornherein scheitern: (wird ausgeführt).

 Volltext der Entscheidung bei Rechtsprechung Rheinland-Pfalz