OVG Greifswald: FFH-Verträglichkeitsprüfung / Betriebserweiterung / Critical Loads

14.01.2013

Rechtlicher Hintergrund

Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG sind Projekte vor ihrer Zulassung oder Durchführung auf ihre Verträglichkeit mit den Erhaltungszielen eines Natura 2000-Gebiets zu überprüfen, wenn sie einzeln oder im Zusammenwirken mit anderen Projekten oder Plänen geeignet sind, das Gebiet erheblich zu beeinträchtigen, und nicht unmittelbar der Verwaltung des Gebiets dienen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist eine FFH-Verträglichkeitsprüfung erforderlich, wenn und soweit derartige Beeinträchtigungen nicht offensichtlich ausgeschlossen werden können, also zumindest vernünftige Zweifel am Ausbleiben von erheblichen Beeinträchtigungen bestehen (U. v. 17.01.2007 - 9 A 20.05 - BVerwGE 128, 1 ff.). Der eigentlichen Verträglichkeitsprüfung ist eine Vorprüfung bzw. Erheblichkeitseinschätzung (sog. Screening) vorgeschaltet. Die dabei anzulegenden Maßstäbe sind nicht identisch mit den Maßstäben für die Verträglichkeitsprüfung selbst. Bei der Vorprüfung ist nur zu untersuchen, ob erhebliche Beeinträchtigungen des Schutzgebiets ernstlich zu besorgen sind. Erst wenn das zu bejahen ist, schließt sich die Verträglichkeitsprüfung mit ihren Anforderungen an den diese Besorgnis ausräumenden naturschutzfachlichen Gegenbeweis an (BVerwG, Urt. v. 29.09.2011 - 7 C 21.09 - NuR 2012, 119; Urt. v. 26.11.2007 - 4 BN 46.07 - NuR 2008, 115).

Unter Berücksichtigung des Vorsorgegrundsatzes ist der notwendige Grad der Wahrscheinlichkeit von erheblichen Beeinträchtigungen erreicht, wenn anhand objektiver Umstände nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Vorhaben das fragliche Gebiet in dieser Weise beeinträchtigt (vgl. EuGH, Urt. v. 07.09.2004 - C-127/02 - NuR 2004, 788 - Herzmuschelfischerei; Urt. v. 20.10.2005 - C-6/04 – NuR 2006, 494 u. v. 10.01.2006 - C-98/03 -, NVwZ 2006, 319; BVerwG, Urt. v. 17.01.2007 – 9 A 20.05 –NVwZ 2007, 1054, Rn. 58). Dabei verlangt das Vorsorgeprinzip nicht, die Prüfung auf ein "Nullrisiko" auszurichten. Bei der Vorprüfung, ob eine FFH-Verträglichkeitsprüfung geboten ist, müssen zumindest vernünftige Zweifel am Ausbleiben von erheblichen Beeinträchtigungen bestehen. Eine FFH-Verträglichkeitsprüfung ist daher erforderlich, wenn solche Beeinträchtigungen nicht offensichtlich ausgeschlossen werden können (BVerwG, Urt. v. 17.01.2007 – 9 A 20.05 – a. a. O. Rn. 59).

Entscheidung des Gerichts

Vor diesem Hintergrund wirken sich die hier streitgegenständlichen Stickstoffimmissionen nach Ansicht des OVG wie folgt aus:

Ob erhebliche Beeinträchtigungen der Erhaltungsziele von FFH-Gebieten durch Stickstoffdepositionen ernstlich zu besorgen sind, beantwortet sich nicht nach pauschalen oder nur auf den Menschen abstellenden Luftkonzentrationswerten der TA Luft oder der 22. BImSchV. Für die Verträglichkeitsprüfung und ebenso für die Vorprüfung reicht der allgemein zum Schutz der Vegetation dienende Luftkonzentrationsgrenzwert für Stickstoffoxide in § 3 Abs. 6 der 22. BImSchV als verlässlicher Beurteilungsmaßstab für die je spezielle Empfindlichkeiten aufweisenden FFH-Lebensraumtypen nicht aus. Größere Aussagekraft für die Beurteilung hat das Konzept der Critical Loads, das im Rahmen der UN-ECE-Luftreinhaltekonvention entwickelt worden ist. Critical Loads sollen naturwissenschaftlich begründete Belastungsgrenzen für Vegetationstypen oder andere Schutzgüter umschreiben, bei deren Einhaltung eine Luftschadstoffdeposition auch langfristig keine signifikant schädlichen Effekte erwarten lässt. In Anbetracht der Unsicherheiten, denen die Beurteilung der durch ein Projekt für habitatrechtlich geschützte Lebensräume hervorgerufenen Stickstoffbelastungen unterliegt, sieht das Bundesverwaltungsgericht gegen die Verwendung dieses Konzepts keine Einwände (BVerwG, Urt. v. 29.09.2011 - 7 C 21.09 - NuR 2012, 119; Urt. v. 14.04.2010 - 9 A 5.08 – a. a. O. Rn. 87; Urt. v. 12.03.2008 - 9 A 3.06 - BVerwGE 130, 299). Da die Critical Loads naturwissenschaftlich begründete Belastungsgrenzen für bestimmte Lebensraumtypen darstellen, kann von ihnen grundsätzlich nicht abgewichen werden. Daher ist grundsätzlich jede Überschreitung eines Wertes, der die Grenze der nach naturschutzfachlicher Einschätzung für das Erhaltungsziel unbedenklichen Auswirkungen bestimmter Art markiert, als erheblich anzusehen. Allgemeine Irrelevanzschwellen, die generalisierend Zusatzbelastungen bis zu einem bestimmten Prozentsatz des CL-Wertes für unbedenklich erklären, sind mit den habitatrechtlichen Vorgaben nicht ohne weiteres zu vereinbaren, sondern bedürfen naturschutzfachlicher Rechtfertigung (BVerwG, Urt. v. 14.04.2010 - 9 A 5.08 - NVwZ 2010, 1226, Rn. 91 ff.).

Dabei ist nicht allein die durch das Projekt hervorgerufene Zusatzbelastung an den Critical Loads zu messen. Gegenstand der Prüfung ist zwar das konkrete Vorhaben. Die Beurteilung von dessen Einwirkungen kann aber nicht losgelöst von den Einwirkungen vorgenommen werden, denen der betroffene Lebensraum im Übrigen unterliegt. Vielmehr ist für eine am Erhaltungsziel orientierte Beurteilung erforderlich, neben den vorhabenbedingten Einwirkungen auch Einwirkungen von anderer Seite in den Blick zu nehmen. Deshalb ist für eine am Erhaltungsziel orientierte Beurteilung der projektbedingten Zusatzbelastung die Berücksichtigung der Vorbelastung unverzichtbar (BVerwG Urt. v. 29.09.2011 - 7 C 21.09 – a. a. O. Rn. 42; Urt. v. 14.04.2010 - 9 A 5.08 – a. a. O. Rn. 88; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 05.09.2012 - 7 B 24.12 - Rn. 11 ff. zur kumulativen Berücksichtigung der Auswirkungen anderer noch nicht verwirklichter aber hinreichend verfestigter Projekte). Nach diesen Maßstäben war im zu entscheidenden Fall von der Erforderlichkeit einer FFH-Verträglichkeitsprüfung auszugehen, weil erhebliche Beeinträchtigungen des Gebietes anhand objektiver Umstände nicht offensichtlich ausgeschlossen werden konnten.

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