Europäischer Gerichtshof präzisiert Anforderungen an vergaberechtsfreie Inhouse-Vergabe

06.12.2012

Sachverhalt

Die Comune di Varese gründete die Gesellschaft ASPEM, um auf ihrem Gebiet als "Inhouse"-Dienstleistungserbringerin öffentliche Dienstleistungen, insbesondere der Stadtreinigung, zu erbringen. Im maßgeblichen Zeitraum besaß die Comune di Varese an dieser Gesellschaft fast sämtliche Anteile, was ihr die Kontrolle über sie sicherte. Aufgrund einer Reihe im Jahr 2005 gefasster Beschlüsse wählten die Comune di Cagno und die Comune di Solbiate als bevorzugte Form der Erbringung des städtischen Reinigungsdienstes, insbesondere der Dienstleistung der Beseitigung von festen städtischen Abfällen, die in den Art. 30 und 113 Abs. 5 Buchst. c des Decreto legislativo Nr. 267/2000 vorgesehene Koordinierung mit anderen Gemeinden, genehmigten den Abschluss einer Vereinbarung mit der Comune di Varese über die entgeltliche Vergabe des städtischen Reinigungsdienstes an ASPEM und traten dieser als öffentliche Anteilseigner bei, indem sie sich durch Zeichnung jeweils einer Aktie an ihrem Grundkapital beteiligten. Das Grundkapital von ASPEM beträgt 173 785 Euro, das in ebenso viele Aktien mit einem Nennwert von jeweils 1 Euro aufgeteilt ist. Die Comune di Varese besitzt mit 173 467 Aktien die Kapitalmehrheit. Die übrigen 318 Aktien verteilen sich auf 36 Gemeinden der Provinz Varese, die jeweils zwischen 1 und 19 Aktien halten.

Parallel zum Erwerb dieser Beteiligung unterzeichneten die Comune di Cagno und die Comune di Solbiate zusammen mit anderen interessierten Gemeinden eine gesellschaftsrechtliche Nebenvereinbarung, mit der ihnen das Recht eingeräumt wurde, konsultiert zu werden, ein Mitglied des Aufsichtsrats und - im Einvernehmen mit den anderen an der Vereinbarung beteiligten Gemeinden - ein Mitglied des Verwaltungsrats zu ernennen.

In diesem Zusammenhang waren diese beiden Gemeinden der Ansicht, dass die Voraussetzungen für eine "Inhouse" -Vergabe der betreffenden im öffentlichen Interesse liegenden Dienstleistung erfüllt seien, da ASPEM von den Gebietskörperschaften gemeinsam kontrolliert werde. Sie vergaben diesen Auftrag daher freihändig an ASPEM. Die Econord SpA widersprach dieser freihändigen Vergabe und machte geltend, dass die Kontrolle der beiden Gemeinden über ASPEM im vorliegenden Fall nicht gewährleistet sei und die Vergabe des Auftrags deshalb nach den unionsrechtlichen Vorschriften hätte erfolgen müssen.

Urteil

Nach feststehender Rechtsprechung ist ein öffentlicher Auftraggeber wie eine Gebietskörperschaft davon befreit, ein Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags durchzuführen, wenn er über die beauftragte Einrichtung eine Kontrolle wie über seine eigenen Dienststellen ausübt und diese Einrichtung zugleich ihre Tätigkeit im Wesentlichen für den oder die öffentlichen Auftraggeber verrichtet, die ihre Anteile innehaben (Urteil „Teckal“, dort Rn. 50). Diese Rechtsprechung, die ursprünglich im Hinblick auf die Auslegung und die Anwendung der Richtlinie 93/36/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge (ABl. L 199, S. 1) erging, ist auch auf Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bau- und Dienstleistungsaufträge anwendbar.

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH liegt eine "Kontrolle wie über eigene Dienststellen" vor, wenn die betreffende Einrichtung einer Kontrolle unterliegt, die es dem öffentlichen Auftraggeber ermöglicht, auf ihre Entscheidungen einzuwirken. Hierbei muss die Möglichkeit gegeben sein, sowohl auf die strategischen Ziele als auch auf die wichtigen Entscheidungen dieser Einrichtung ausschlaggebenden Einfluss zu nehmen (Urteile „Parking Brixen“, dort Rn. 65, „Coditel Brabant“, dort Rn. 28, und „Sea“, dort Rn. 65). Mit anderen Worten muss der öffentliche Auftraggeber in der Lage sein, eine strukturelle und funktionelle Kontrolle über diese Einrichtung auszuüben. Der Gerichtshof verlangt zudem, dass diese Kontrolle wirksam ist. Nach der EuGH-Rechtsprechung kann bei Einschaltung einer von mehreren öffentlichen Stellen gemeinsam gehaltenen Einrichtung die "Kontrolle wie über die eigenen Dienststellen" von diesen Stellen gemeinsam ausgeübt werden, ohne dass es notwendig wäre, dass diese Kontrolle von jeder von ihnen einzeln ausgeübt wird (in diesem Sinne Urteile „Coditel Brabant“, Rn. 47 und 50, sowie „Sea“, Rn. 59).

Infolgedessen kann in einem Fall, in dem eine öffentliche Stelle einer Aktiengesellschaft mit vollständig öffentlichem Kapital als Minderheitsgesellschafterin beitritt, um dieser Gesellschaft die Verwaltung einer öffentlichen Dienstleistung zu übertragen, die Kontrolle, die die öffentlichen Stellen als Gesellschafter der Gesellschaft über diese ausüben, dann, wenn die Kontrolle von diesen Stellen gemeinsam ausgeübt wird, als Kontrolle wie über ihre eigenen Dienststellen angesehen werden. Unter diesen Umständen ist es, wenn mehrere öffentliche Stellen eine gemeinsame Einrichtung zur Erfüllung einer gemeinsamen Gemeinwohlaufgabe einschalten, zwar nicht unbedingt erforderlich, dass jede dieser Stellen allein ein individuelles Kontrollrecht über diese Einrichtung hat, doch darf die über die Einrichtung ausgeübte Kontrolle nicht nur auf der Kontrollbefugnis der öffentlichen Stelle beruhen, die Mehrheitsaktionärin der betreffenden Einrichtung ist, da andernfalls das Konzept der gemeinsamen Kontrolle ausgehöhlt würde. Hat ein öffentlicher Auftraggeber innerhalb einer gemeinsam gehaltenen beauftragten Einrichtung eine Stellung inne, die ihm nicht die geringste Möglichkeit einer Beteiligung an der Kontrolle über diese Einrichtung sichert, würde damit nämlich einer Umgehung der unionsrechtlichen Vorschriften über öffentliche Aufträge und Dienstleistungskonzessionen Tür und Tor geöffnet, da ein rein formaler Beitritt zu einer solchen Einrichtung oder deren gemeinsamem Leitungsorgan diesen öffentlichen Auftraggeber von der Verpflichtung befreien würde, ein Ausschreibungsverfahren nach den Unionsvorschriften durchzuführen, obwohl er bei dieser Einrichtung in keiner Weise an der Ausübung der "Kontrolle wie über eigene Dienststellen" beteiligt wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil des EuGH vom 21. Juli 2005, Coname, C-231/03, Slg. 2005, I-7287, Rn. 24).

Daraus folgt, dass es in den Ausgangsverfahren Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu prüfen, ob die Unterzeichnung der gesellschaftsrechtlichen Nebenvereinbarung durch die Comune di Cagno und die Comune di Solbiate, mit der ihnen das Recht eingeräumt wird, konsultiert zu werden, ein Mitglied des Aufsichtsrats und - im Einvernehmen mit den anderen an der Vereinbarung beteiligten Gemeinden - ein Mitglied des Verwaltungsrats zu ernennen, es diesen Gemeinden ermöglichen kann, tatsächlich zur Kontrolle von ASPEM beizutragen.