Auftraggeber muss Unterpreisangebot vor Angebotsausschluss aufklären.

21.08.2012

 

Zu: EuGH, Urteil vom 29.03.2012 - Rs. C-599/10

 

Ein in der Slowakei ansässiger öffentlicher Auftraggeber führt ein Nichtoffenes Ausschreibungsverfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags über die Erhebung von Maut mit einem geschätzten Wert von mehr als 600.000.000 Euro durch. Zwei Bieter reichen Angebote ein. Diese werden vom Auftraggeber aufgefordert, ihre Angebote hinsichtlich der ungewöhnlich niedrigen Preise zu erläutern. Trotz erfolgter Antwort werden beide vom Verfahren ausgeschlossen. Sie erheben Klage. Der oberste Gerichtshof der Slowakei hat dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens Auslegungsfragen im Hinblick auf die Vergabekoordinierungsrichtlinie gestellt.

 

Der EuGH stellt zunächst klar, dass die Hauptziele der Unionsvorschriften über das öffentliche Auftragswesen die Gewährleistung des freien Dienstleistungsverkehrs und die Öffnung für einen unverfälschten Wettbewerb in allen Mitgliedstaaten sind. Diese Ziele verfolgt das Unionsrecht insbesondere durch Gleichbehandlung und der sich daraus ergebenden Verpflichtung zur Transparenz. Letzteres soll im Wesentlichen die Gefahr einer Günstlingswirtschaft oder willkürlicher Entscheidungen des öffentlichen Auftraggebers ausschließen. Wenn im Fall eines bestimmten Auftrags Angebote den Eindruck erwecken, im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig zu sein, ist der Auftraggeber verpflichtet, die Einzelposten der ungewöhnlich niedrigen Angebote zu überprüfen, indem er die Bewerber zur Vorlage der erforderlichen Belege für die Seriosität dieser Angebote auffordert. Willkür kann nur dann verhindert und ein gesunder Wettbewerb zwischen den Unternehmen nur dann gewährleistet werden, wenn zu einem "zweckmäßigen" Zeitpunkt eine "effektive kontradiktorische Erörterung zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und dem Bewerber" stattfindet.

 

Die bisherige Rechtsprechung geht davon aus, dass ein Angebot nur dann wegen eines ungewöhnlich niedrigen Preises ausgeschlossen werden kann, wenn der Gesamtpreis wesentlich unter den Preisen der nächstplatzierten Bieter liegt. Mit der Auslegung des EuGH, dass der öffentliche Auftraggeber verpflichtet ist, "die Einzelposten der ungewöhnlich niedrigen Angebote" zu überprüfen, scheint eine Änderung dieser nationalen Rechtsprechung vorhersehbar. Der Bieter ist verpflichtet, in zweckdienlicher Weise den vollen Beweis der Seriosität seines Angebots zu erbringen. Ungewöhnlich niedrige Einzelpositionen können diese Seriosität in Zweifel ziehen. Versteht man die Aufklärungspflicht des öffentlichen Auftraggebers als Verpflichtung zur Gewährleistung des Grundsatzes der Gleichbehandlung und Transparenz, so steht auch die bisherige Rechtsprechung auf dem Prüfstand, wonach einem Wettbewerber kein subjektives Recht auf Ausschluss eines Unterkostenangebots zusteht.