Unterschwellenvergabe: Wann besteht an einem Auftrag ein grenzüberschreitendes Interesse?

01.01.2012

Unterschwellenvergabe: Wann besteht an einem Auftrag ein grenzüberschreitendes Interesse?

Zu: BGH, Urteil vom 30.08.2011 - X ZR 55/10

Zur Beurteilung der Frage, ob an einem öffentlichen Auftrag ein grenzüberschreitendes Interesse besteht, ist eine Prognose darüber anzustellen, ob der Auftrag nach den konkreten Marktverhältnissen, das heißt mit Blick auf die angesprochenen Branchenkreise und ihre Bereitschaft, Aufträge gegebenenfalls in Anbetracht ihres Volumens und des Ortes der Auftragsdurchführung auch grenzüberschreitend auszuführen, für ausländische Anbieter interessant sein könnte.

Ein Bieter unterliegt in einem Vergabeverfahren, bei dem Bauleistungen unterhalb des maßgeblichen Schwellenwerts vergeben werden, und klagt auf Schadensersatz. Er führt an, dass die Vergabestelle das Primärrecht der EU nicht angewandt habe. Sie habe verkannt, dass dem Auftrag ein grenzüberschreitendes Interesse zukomme. Nach Ansicht des Bieters könne bei Bauvergaben ab einem Wert von 1 Mio. Euro regelmäßig ein solches Interesse unterstellt werden. Dies ergebe sich aus § 2 Nr. 6 VgV, der den Schwellenwert für Lose von Bauaufträgen auf diesen Betrag festlege.

Der BGH lehnt diese Rechtsauffassung ab. § 2 Nr. 6 VgV wurzelt im EU-Vergaberecht (Richtlinie 2004/18/EG Art. 9 Abs. 5 a) und privilegiert Bauauftraggeber bei der Vergabe kleinerer Lose von Aufträgen, die selbst den Schwellenwert übersteigen. Diese Regelung bietet keine tragfähige Grundlage für die Schlussfolgerung des Klägers, dass bei Aufträgen von einem Gesamtvolumen ab 1 Mio. Euro ein grenzüberschreitendes Interesse besteht. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist es vielmehr stets Sache des nationalen Gerichts, alle maßgeblichen Gegebenheiten, die den fraglichen Auftrag betreffen, eingehend zu würdigen, um festzustellen, ob im Einzelfall ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht (Urteil vom 23.12.2009 - Rs. C-376/08). In Anlehnung an die für Vergabeverfahren außerhalb der Vergaberichtlinien ergangene Mitteilung der Kommission (ABl. Nr. C 179 vom 01.08.2006, S. 2 ff unter 1.3.) bietet es sich an, eine Prognose unter Berücksichtigung bestimmter Kriterien anzustellen. Dabei muss abgeschätzt werden, ob der Auftrag nach den konkreten Marktverhältnissen für ausländische Anbieter interessant sein könnte. Maßgeblich sind insoweit die angesprochenen Branchenkreise und ihre Bereitschaft, Aufträge in Anbetracht ihres Volumens und des Ortes auch grenzüberschreitend auszuführen.

Bei Vergaben unterhalb der Schwellenwerte sind von öffentlichen Auftraggebern neben den jeweiligen haushaltsrechtlichen Bestimmungen auch die Grundregeln des europäischen Primärrechts zu beachten, falls - nach beurteilungsfehlerfreier Prognose der Vergabestelle - am jeweiligen Auftrag ein grenzüberschreitendes Interesse besteht. Diese Prognose kann im grenznahen Gebiet mitunter anders ausfallen, als in der Mitte der Republik. Die hierbei zu berücksichtigenden wesentlichen Kriterien (Branche, Volumen, Ort) hat der BGH in seiner Entscheidung benannt. Unterhalb der Schwellenwerte gibt es insoweit keine pauschalen Wertgrenzen. Ist ein grenzüberschreitendes Interesse zu bejahen, hat der Auftraggeber die grundlegenden Vorschriften des Unionsrechts zu beachten, zu denen unter anderem der Gleichbehandlungsgrundsatz sowie das Transparenzgebot nach Art. 49, 56 AEUV gehören (vgl. EuGH, Urteil vom 23.12.2009 - Rs. C-376/08). Zwar steht es im Ermessen der Mitgliedstaaten, durch welche Maßnahmen sie die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Transparenz verwirklichen wollen. Das unmittelbar anwendbare Unionsrecht ist jedoch zu beachten und kann - wie hier - den Gegenstand einer Überprüfung durch nationale Gerichte bilden.

Ihr Ansprechpartner: Rechtsanwalt Jochen Zweschper, Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht

Quelle: ibr-online-Newsletter 20/2011