EuGH: Baubehörden müssen Sicherheitsabstand zu Störfallbetrieben im Einzelfall prüfen

01.01.2012

EuGH: Baubehörden müssen Sicherheitsabstand zu Störfallbetrieben im Einzelfall prüfen

Zu: EuGH, Urteil vom 15.09.2011 - C-53/10.

Die unionsrechtliche Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass zwischen Störfallbetrieben und öffentlich genutzten Gebäuden ein ausreichend großer Sicherheitsabstand gewahrt bleibt, trifft auch die deutschen Baugenehmigungsbehörden. Das hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 15.09.2011 auf eine entsprechende Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts entschieden. Sei die Einhaltung des Abstands aus Platzmangel nicht möglich, müsse die Behörde die Zulassung des Bauvorhabens abwägen und zwar auch in dem Fall, dass nach nationalem Recht eine gebundene Entscheidung zu erlassen wäre.

Das Verfahren betrifft die Klage des Pharma- und Chemieherstellers Merck gegen den bereits erteilten positiven Bauvorbescheid für den Bau eines Gartencenters in unmittelbarer Nähe des Darmstädter Firmensitzes. Nach Ansicht von Merck fordert aber Art. 12 der Seveso-II-Richtlinie (Richtlinie 96/82/EG) zwingend einen angemessenen Abstand zwischen öffentlich genutzten Gebäuden und gefährlichen Industriegebieten. Mangels Bebauungsplan für das zu bebauende Gebiet und in Anbetracht verschiedener anderer großflächige Einzelhandelsbetriebe in unmittelbarer Nähe wurden die Klagen von Merck in den beiden ersten Instanzen abgewiesen.

Auch das Bundesverwaltungsgericht beurteilte im Revisionsverfahren die Errichtung des Gartencenters nach deutschem Recht als grundsätzlich zulässig. Es äußerte aber Zweifel an der Auslegung des Art. 12 der Seveso-II-Richtlinie und legte dem EuGH daher die Frage vor, ob bei einer Nutzungsänderung in der Nachbarschaft eines Industrieunternehmens ein angemessener Abstand entsprechend der Richtlinie gewahrt werden müsse und ob sich diese Verpflichtung auch an die zuständigen Baugenehmigungsbehörden richte. Das BVerwG wollte weiter wissen, ob das Bauvorhaben bei Unterschreitung des unionsrechtlich festgelegten Abstands zwingend verboten werden müsse beziehungsweise, ob eine Baugenehmigung ohne weitere Risikoprüfung zwingend erteilt werden müsse, wenn die Voraussetzungen dafür nach nationalem Recht erfüllt seien.

Der EuGH stellte in seiner Entscheidung klar, dass nicht nur die Planungsträger, sondern auch die unmittelbar an der Abwicklung von Bauvorhaben beteiligten Baugenehmigungsbehörden die Verpflichtung zur Einhaltung des unionsrechtlich vorgegebenen angemessenen Abstands von öffentlich genutzten Gebäuden zu gefährlichen Betrieben trifft. So könne die Tatsache, dass wie im Ausgangsverfahren ein Bebauungsplan fehlt, die genannten Behörden nicht der Pflicht entheben, bei der Prüfung von Anträgen auf Baugenehmigung das Erfordernis der Wahrung angemessener Abstände zu berücksichtigen. Andernfalls wäre nämlich diese Verpflichtung leicht zu umgehen und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie zu missachten.

Zu den weiteren Fragen äußert der EuGH, dass die Verpflichtung zur Wahrung angemessener Abstände nicht absolut in dem Sinne verstanden werden könne, dass jedes neue Ansiedlungsvorhaben in einem im Zusammenhang bebauten Gebiet, in dem sich störanfällige Betriebe befinden, einschließlich der Fälle, in denen die Ansiedlung ein öffentlich genutztes Gebäude betrifft, untersagt werden müsste. Diese Verpflichtung stehe aber nationalen Rechtsvorschriften entgegen, nach denen eine Genehmigung für die Ansiedlung eines solchen Gebäudes zwingend zu erteilen ist, ohne dass die Risiken der Ansiedlung innerhalb der genannten Abstandsgrenzen im Stadium der Planung oder der individuellen Entscheidung gebührend gewürdigt worden wären.

Die «Berücksichtigung» der angemessenen Abstände verlange, dass diese bei der Risikobewertung neben anderen Faktoren auch tatsächlich berücksichtigt werden, sei es in allgemeiner Weise bei der Aufstellung der Flächenausweisungs- oder Flächennutzungspläne oder, mangels einer Planung, in spezifischer Weise, insbesondere beim Erlass von Entscheidungen über Baugenehmigungen.

Ihr Ansprechpartner: Rechtsanwalt Dr. Alfred Stapelfeldt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht

Quelle: Beck-aktuell-Redaktion, Verlag C.H. Beck, 19.09.2011