EuGH: Zur Zulässigkeit von Doppelangeboten

01.01.2012

EuGH: Zulässigkeit von Doppelangeboten

Zu: EuGH, Urteil vom 23.12.2009

Das Gemeinschaftsrecht ist dahingehend auszulegen, dass es einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die in einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags, dessen Wert nicht den in Art. 7 abs. 1 lit. c der Richtlinie 2004/18 vorgesehenen Schwellenwert erreicht, der aber ein grenzüberschreitendes Interesse aufweist, den automatischen Ausschluss sowohl eines festen Konsortiums als auch seiner Mitgliedsunternehmen von der Teilnahme an diesem Verfahren und die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen gegen sie vorsieht, wenn die Unternehmen im Rahmen derselben Ausschreibung konkurrierende Angebote zu dem des Konsortiums eingereicht haben, auch wenn das Angebot des Konsortiums nicht für Rechnung und im Interesse dieser Unternehmen abgegeben worden sein soll.

Betreffend Vorabentscheidungsersuchen über die Auslegung von Art. 4 der Richtlinie 2004/18/EG des Eur. Parlaments und des Rates vom 31.03.2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, der Art. 39 EG, 43 EG, 49 EG und 81 EG sowie der allgemeinen Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit.

Im Jahr 2007 schrieb die Comune di Milano die Vergabe eines Bauauftrages über "Notmaßnahmen und Rationalisierungen in den Bezirksverwaltungen, Los 5" aus. Am 27.09.2007 wurde Serrantoni, Mitglied des festen Konsortiums Consorzio stabile edili Scrl und auch dieses Konsortium wegen einer Zuwiderhandlung gegen Art. 36 Abs. 5 des Gesetzesdekrets Nr. 163/2006 (Anm.: Italienisches Landesrecht) von dem Vergabeverfahren ausgeschlossen. Art. 36 Abs. 5 des Gesetzesdekrets Nr. 16 3/2006 in der im Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung lautet wie folgt: "die Beteiligung des festen Konsortiums und seiner Mitglieder an demselben Ausschreibungsverfahren ist verboten; bei Nichtbeachtung dieses Verbots findet Art. 353 des Strafgesetzbuches Anwendung". Auf dieser Grundlage wurden die Akten an die Staatsanwaltschaft übersandt und der Auftrag an ein anderes Unternehmen vergeben.

Gegen diese Entscheidung haben Serrantoni und das feste Konsortium Klage bei dem vorlegenden Gericht erhoben. Sie machen geltend, dass Art. 36 Abs. 5 des Gesetzesdekrets Nr. 163/2006 mit Art. 4 der Richtlinie 2004/18 und den Art. 39 EG, 43 EG, 49 EG und 81 EG sowie mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung nicht vereinbar sei.
Das vorlegende Gericht betont, dass die in Rede stehenden nationalen Vorschriften zwischen festen Konsortien einerseits und Konsortien von Produktions- und Arbeitsgenossenschaften sowie Konsortien von Handwerksunternehmen andererseits unterscheiden. Für die Erstgenannten gilt unter Androhung des automatischen Ausschlusses und strafrechtlicher Sanktionen ein absolutes Verbot, gleichzeitig mit einer dem Konsortium angehörenden Gesellschaft an derselben Ausschreibung mit getrennten Angeboten teilzunehmen. Für die Zweitgenannten gelte dieses Verbot nur für das Konsortium und die Gesellschaft, in deren Interesse das Konsortium ein Angebot für den fraglichen Auftrag abgegeben habe.

Weiterhin stellt das vorlegende Gericht fest, dass die genannten verschiedenen Formen von Konsortien keine Unterschiede in der Zwecksetzung und Organisation aufweisen, die eine solche Ungleichbehandlung rechtfertigen. Allen diesen Konsortien sei gemeinsam, dass sie eine gemeinsame Struktur zur Schaffung einer Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsunternehmen aufweisen, mit der Verwaltungskosten verringert, die wirtschaftlichen Ergebnisse eines jeden Einzelnen verbessert und die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Gebiet öffentlicher Aufträge erhöht werden sollen. Fraglich ist daher, ob eine solche unterschiedliche Behandlung mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung und dem gemeinschaftlichen Erfordernis der Gewährleistung einer möglichst hohen Beteiligung an Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge vereinbar ist.
Klärungsbedürftig ist weiterhin, ob diese unterschiedliche Behandlung mit Art. 4 der Richtlinie 2004/18 vereinbar ist, soweit der fragliche Ausschluss sich nur aus der Verfasstheit der fraglichen Einheit in der Rechtsform des festen Konsortiums ergibt und ob sie mit den Art. 39 EG, 43 EG, 49 EG und 81 EG vereinbar ist. Dies habe darüber hinaus besondere Relevanz aufgrund der Tatsache, dass die Einrichtung von Konsortien in großem Umfang in den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten vorgesehen sei und auf Gemeinschaftsebene ihre Synthese in den Europäischen Wirtschaftlichen Interessenvereinigungen (EWIV) finde.

Das in Rede stehende absolute Verbot sei ausschließlich auf ein formales Kriterium gestützt, nämlich die Teilnahme einer Gesellschaft an einer bestimmten Form eines Konsortiums. Die streitige Regelung verlange in keiner Weise eine konkrete Beurteilung der gegenseitigen Einflussnahme des Konsortiums und des Mitgliedsunternehmens, sondern stelle im Gegenteil eine abstrakte Vermutung einer gegenseitigen Beeinflussung auf. Das absolute Verbot gelte somit auch dann, wenn das Konsortium nicht im Interesse der Gesellschaft an der Ausschreibung teilnehme, diese nicht in Anspruch nehme, um den Auftrag auszuführen und sich somit nicht mit dieser Gesellschaft über die Präsentation des Angebots geeinigt habe. Daher ist fraglich, ob dieses absolute Verbot durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses, nämlich Wahrung der Rechtmäßigkeit, gerechtfertigt werden kann und ob es nicht weit über seine Zielsetzung hinausgeht.

In Anbetracht dieser Erwägungen hat das Tribunal amministrativo regionale per la Lombardia beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Europäischen Gerichtshof o.g. Fragen zur Entscheidung vorzulegen.
Der Europäische Gerichtshof weist darauf hin, dass der Marktwert, auf den sich das streitige Verfahren bezieht, deutlich unter dem in Art. 7 Abs. 1 lit. c der Richtlinie 2004/18 vorgesehenen Schwellenwert liegt. Folglich unterliegt dieser Auftrag nicht dem Anwendungsbereich der in dieser Richtlinie vorgesehenen Verfahren. Gleichwohl ist dieser Auftrag nicht vollständig der Geltung des Gemeinschaftsrechts entzogen.
Die fundamentalen Regelungen des EG-Vertrages, insbesondere der Grundsatz der Gleichbehandlung, sind einzuhalten.
Diese Auslegung wird durch den zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/14 bestätigt:
"Die Vergabe von Aufträgen in den Mitgliedsstaaten auf Rechnung des Staates, der Gebietskörperschaften und anderer Einrichtungen öffentlichen Rechts ist an die Einhaltung der im [EG-] Vertrag niedergelegten Grundsätze gebunden, insbesondere des Grundsatzes des freien Warenverkehrs, des Grundsatzes der Niederlassungsfreiheit und des Grundsatzes der Dienstleistungsfreiheit sowie der davon abgeleiteten Grundsätze, wie z.B. des Grundsatzes der Gleichbehandlung, des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung, des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Grundsatzes der Transparenz".
Die Anwendung der grundlegenden Vorschriften und der allgemeinen Grundsätze des Vertrags auf die Verfahren zur Vergabe von Aufträgen, deren Wert unter dem Schwellenwert für die Anwendung der Gemeinschaftsrichtlinien liegt, setzt gemäß der Rechtsprechung des EuGH jedoch voraus, dass an diesen Aufträgen ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht.

Zur Vorlage des italienischen Gerichts weist der EuGH darauf hin, dass der streitige Ausschlusstatbestand keinen Bezug zur Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 EG sowie zu Vereinbarungen zwischen Unternehmen und Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen nach Art. 81 EG aufweist.
Bezüglich der Grundsätze der Gleichbehandlung und der Transparenz ist den Mitgliedsstaaten ein gewisses Ermessen zuzuerkennen, um zur Einhaltung dieser Grundsätze bestimmte Maßnahmen zu erlassen, die öffentliche Auftraggeber bei jedem Verfahren zur Vergabe eines Auftrages zu beachten haben. Schließlich sei jeder Mitgliedsstaat am besten in der Lage, im Licht seiner spezifischen historischen, rechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Erwägungen zu bestimmen, durch welche Situationen Verhaltensweisen begünstigt werden, die zu Missständen bei der Beachtung dieser Grundsätze führen könnten. Solche Maßnahmen dürfen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Der EuGH stellt fest, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Maßnahme des automatischen Ausschlusses, die nur die Form des festen Konsortiums und seine Mitgliedsunternehmen betrifft und die bei konkurrierenden Angeboten unabhängig davon Anwendung findet, ob das betreffende Konsortium sich an der fraglichen Ausschreibung für Rechnung und im Interesse der Unternehmen, die ein Angebot unterbreitet haben, beteiligt, eine diskriminierende Behandlung zum Nachteil dieser Form eines Konsortiums darstellt und somit nicht mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung im Einklang steht. Ebenso ist die Vorschrift über den automatischen Ausschluss nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar, selbst wenn unterstellt würde, dass die fragliche Behandlung unterschiedslos für alle Formen von Konsortien gilt oder dass das nationale Gericht das Vorliegen objektiver Gesichtspunkte feststellt, die geeignet sind, eine Unterscheidung der Situation der festen Konsortien von der anderer Formen von Konsortien zu begründen.
Eine solche Vorschrift enthalte nämlich in den Fällen, in denen ein Konsortium und eines oder mehrere ihm angehörende Unternehmen in demselben Ausschreibungsverfahren konkurrierende Angebote eingereicht haben, selbst dann eine unwiderlegliche Vermutung einer gegenseitigen Einflussnahme, wenn das Konsortium sich an dem fraglichen Verfahren nicht für Rechnung und Interesse dieser Unternehmen beteiligt hat, ohne dass es dem Konsortium oder den Betroffenen ermöglicht würde, nachzuweisen, dass ihre Angebote völlig unabhängig voneinander formuliert worden sind und folglich eine Gefahr einer Beeinflussung des Wettbewerbs unter Bietern nicht besteht.
Eine solche Vorschrift über einen systematischen Ausschluss läuft dem Gemeinschaftsinteresse daran zuwider, dass die Beteiligung möglichst vieler Bieter an einer Ausschreibung sichergestellt wird und geht über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist, die Anwendung der Grundsätze der Gleichbehandlung und der Transparenz zu gewährleisten.
Der EuGH weist auch daraufhin, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs die Art. 43 EG und 49 EG jeder nationalen Regelung entgegenstehen, die zwar ohne Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit anwendbar ist, die aber geeignet ist, die Ausübung der durch diese Bestimmungen des Vertrages garantierten Freiheiten der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs durch die Gemeinschaftsangehörigen zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen.

Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften stellte fest, dass eine nationale Vorschrift, wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die einen automatischen Ausschluss zum Nachteil der festen Konsortien und der ihnen angehörenden Unternehmen vorsieht, geeignet, auf die Wirtschaftsteilnehmer mit Sitz in anderen Mitgliedsstaaten eine abschreckende Wirkung auszuüben.
Eine solche nationale Vorschrift stellt eine Beschränkung im Sinne der Art. 43 EG und 49 EG dar, zumal diese abschreckende Wirkung durch die Androhung der strafrechtlichen Sanktionen verstärkt wird, die in der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Regelung vorgesehen sind.
Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Beschränkung könnte jedoch gerechtfertigt sein, wenn sei ein legitimes Ziel des Allgemeininteresses verfolgt und soweit sie geeignet ist, dessen Erreichung zu gewährleisten und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist.

Im vorliegenden Fall stellte der EuGH fest, dass die fragliche Beschränkung trotz ihres legitimen Ziels der Bekämpfung potenziell kollusiven Verhaltens zwischen dem fraglichen Konsortium und den ihm angehörenden Unternehmen nicht gerechtfertigt werden kann, da die Beschränkung, wie bereits oben erläutert, über das hinausgeht, was zur Erreichung des Ziels notwendig ist.
Folglich ist das Gemeinschaftsrecht dahingehend auszulegen, das es einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die in einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags, dessen Wert nicht den in Art. 7 abs. 1 lit. c der Richtlinie 2004/18 vorgesehenen Schwellenwert erreicht, der aber ein grenzüberschreitendes Interesse aufweist, den automatischen Ausschluss sowohl eines festen Konsortiums als auch seiner Mitgliedsunternehmen von der Teilnahme an diesem Verfahren und die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen gegen sie vorsieht, wenn die Unternehmen im Rahmen derselben Ausschreibung konkurrierende Angebote zu dem des Konsortiums eingereicht haben, auch wenn das Angebot des Konsortiums nicht für Rechnung und im Interesse dieser Unternehmen abgegeben worden sein soll.

Ihr Ansprechpartner: Rechtsanwalt Jochen Zweschper, Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht