Zeitverzögerte Umsetzung von Verwaltungsrichtlinien begründet einen Amtshaftungsanspruch

01.01.2012

Zeitverzögerte Umsetzung von Verwaltungsrichtlinien begründet einen Amtshaftungsanspruch

Das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe hat mit Urteil vom 07.04.2006 (14 U 142/06) in einem Amtshaftungsprozess einen Landkreis in Baden- Württemberg zu einer Schadensersatzzahlung verurteilt. Die zuständige Behörde hatte im Fall des Klägers das Kindergeld bei der Bedarfsberechnung für Leistungen nach der Grundsicherung bedarfsmindernd angerechnet, obwohl die seit einem Jahr geltenden Richtlinien eine solche Anrechnung nicht vorsahen.

Der schwerbehinderte erwachsene Kläger hatte Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz beantragt. Daraufhin wurde bei der im Januar 2003 vorgenommenen Bedarfsberechnung im Einklang mit der damaligen Verwaltungspraxis das Kindergeld als Einkommen des Klägers mit bedarfsmindernder Wirkung angerechnet. Im Juli 2003 ergingen die Grundsicherungsrichtlinien des Landkreistages und des Städtetages Baden-Württemberg, nach denen Kindergeld regelmäßig Einkommen des Kindergeldberechtigten ist. Der Landkreis informierte weder den Kläger noch dessen Eltern über die neue Rechtslage. Erst im Juli 2004 nahm er eine entsprechende Bedarfsberechnung ohne Berücksichtigung des Kindergeldes als Einkommen vor. Daraufhin macht der Kläger wegen Verletzung einer ihm gegenüber bestehenden Amtspflicht Schadensersatz für die Monate Juli 2003 bis Juni 2004 gegen den Landkreis geltend. Nachdem das Landgericht der Klage stattgegeben hatte, blieb jetzt die dagegen eingelegte Berufung ohne Erfolg.

Das OLG entschied, der Landkreis sei verpflichtet gewesen, die den Kläger betreffende Bedarfsberechnung und dementsprechend seine Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz mit Wirkung ab Juli 2003 an die neuen Grundsicherungsrichtlinien anzupassen. Danach hätte das Kindergeld nicht angerechnet werden dürfen. Eine Richtlinie sei zwar an die Verwaltung gerichtet und solle den Beamten die Amtsausübung erleichtern. Sie führe aber zu einer Selbstbindung der Verwaltung, was ihr in der Praxis die gleiche Wirkung wie der Erlass eines formellen Gesetzes gebe. In der Frage der Drittbezogenheit sei sie daher wie ein Gesetz oder eine Verordnung zu behandeln.

Die Handhabung des Landkreises, die Richtlinie erst fast ein Jahr nach ihrem Erlass umzusetzen, widerspreche der Rechtslage und stellt daher eine Amtspflichtverletzung dar, so das OLG. Diese sei auch schuldhaft erfolgt. Dass dies einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung darstellte, wäre für den anweisenden Beamten erkennbar gewesen. Mögliche fiskalische Überlegungen änderten daran ebenso wenig wie der Umstand, dass eine Überprüfung der zurückliegenden Leistungsfälle mit einem erheblichen Aufwand verbunden gewesen wäre.

Ihr Ansprechpartner: Rechtsanwalt Dr. Alfred Stapelfeldt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht