Kein Anspruch behinderter Kinder auf Aufnahme in einen integrativen Regelkindergarten

01.01.2012

Kein Anspruch behinderter Kinder auf Aufnahme in einen integrativen Regelkindergarten

Die Nichtaufnahme behinderter Kinder in einen integrativen Regelkindergarten verstößt nicht gegen deren Grundrechte, wenn die in der Integrationsgruppe des örtlichen Regelkindergartens dort vorhandenen Plätze besetzt sind und wenn das Risiko von Verletzungen aufgrund der Behinderung (hier: Osteogenesis imperfecta - Glasknochenkrankheit) dort gegenüber einem heilpädagogischen Kindergarten deutlich gesteigert ist, entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluss vom 10.02.06 (1 BvR 91/06).

Die Beschwerdeführerinnen sind im Jahr 2001 geborene Zwillinge, die beide an einer Osteogenesis imperfecta (Glasknochenkrankheit) leiden. Mit Beschluss vom 26. August 2005 lehnte das Verwaltungsgericht den im einstweiligen Rechtsschutz gestellten Antrag der Beschwerdeführerinnen ab, die Stadt Z. und den Landkreis R. als Träger der Kinder- und Jugendhilfe zu verpflichten, sie mit Beginn des Kindergartenjahres 2005/2006 vorläufig in die Integrationsgruppe eines örtlichen Kindergartens aufzunehmen und die Kosten der Integration zu übernehmen. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 9. Dezember 2005 zurück. Mit ihrer mittelbar auch gegen § 12 Abs. 2 Kindertagesstättengesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde rügten die Beschwerdeführerinnen eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Unter anderem trugen sie sinngemäß vor, die Gerichte hätten sie auf eine für sie ungeeignete Einrichtung verwiesen. Sie hätten drei ärztliche Stellungnahmen vorgelegt, die ihnen volle geistige Fähigkeiten bescheinigten. Es sei den Gerichten gegenüber dargelegt worden, dass sie zwar teilweise einen Rollstuhl benutzten, dieses jedoch keine Einschränkung ihrer Mobilität darstelle. Das Oberverwaltungsgericht habe bei der Ablehnung der Anträge die von ihnen vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen nicht berücksichtigt. Den Anspruch auf einen Regelkindergartenplatz abzusprechen, verletze Art. 3 Abs. 3 GG, sofern Gerichte sich wie hier nur auf Grundlage von Spekulationen über die Art der Behinderung der Mädchen auseinander setzten. Die Möglichkeit der Knochenbrüche könne in allen Lebenslagen auftreten, sowohl in einer Regelkindergartengruppe als auch in einem heilpädagogischen Kindergarten. § 12 Abs. 2 Kindertagesstättengesetz sei verfassungswidrig, soweit diese Vorschrift den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Sinne von § 24 SGB VIII für behinderte Kinder von vorneherein nur auf die Form einer teilstationären Einrichtung beschränke.

Das BVerfG entschied nun, dass § 12 Abs. 2 Kindertagesstättengesetz verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Mit Rücksicht auf Art. 6 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG sei der Staat grundsätzlich gehalten, für behinderte Kinder Einrichtungen bereitzuhalten, die auch ihnen eine sachgerechte Erziehung, Bildung und Ausbildung ermöglichen. Danach wäre ein genereller Ausschluss der Möglichkeit einer gemeinsamen Erziehung von behinderten Kindern mit nicht behinderten Kindern nicht zu rechtfertigen Es sei allerdings von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass der Staat die zielgleiche wie die zieldifferente integrative Erziehung unter den Vorbehalt des organisatorisch, personell und von den sächlichen Voraussetzungen her Möglichen stelle.

Diesen Maßstäben werde der Niedersächsische Landesgesetzgeber mit § 12 Kindertagesstättengesetz in Verbindung mit § 3 Abs. 6 Kindertagesstättengesetz gerecht. Nach § 3 Abs. 6 Kindertagesstättengesetz haben das Land, die örtlichen Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe und die Gemeinden darauf hinzuwirken, dass wesentlich behinderte Kinder nach Möglichkeit gemeinsam mit nicht behinderten Kindern in einer Kindertagesstätte in einer gemeinsamen Gruppe betreut werden. Voraussetzung für die Anwendung dieser Norm ist regelmäßig der Umstand, dass die betroffenen Kinder im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX "wesentlich" behindert sind. Die dabei getroffene, typisierende Annahme des Gesetzgebers, dass Kinder mit wesentlichen Behinderungen insoweit keinen Anspruch auf einen Platz in einem Regelkindergarten haben, sondern eine Hilfe in einer teilstationären Einrichtung benötigen, ist nach Ansicht des BVerfG nachvollziehbar.

Soweit die Beschwerdeführerinnen in diesem Zusammenhang eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 Abs. 3 GG und Art. 1 Abs. 1 GG rügen, weil der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Sinne des § 24 SGB VIII für behinderte Kinder von vorneherein nur auf die Form einer teilstationären Einrichtung reduziert werde, treffe dies nicht zu, weil der Begriff der "wesentlichen" Beeinträchtigung Wertungsspielräume für eine verfassungsgemäße Auslegung zulässt. Für den Fall, dass die Behinderung der Kinder ihrer Eigenart nach einer Aufnahme in einem Regelkindergarten nicht entgegensteht, könne die Vorschrift dahingehend ausgelegt werden, dass die Behinderung nur unwesentlich im Sinne des § 12 Abs. 2 Kindertagesstättengesetz ist. Hierfür spreche auch der Umstand, dass § 53 Abs. 1 SGB XII, dessen Voraussetzungen für einen Anspruch auf einen Platz in einer teilstationären Einrichtung nach § 12 Abs. 2 Kindertagesstättengesetz vorliegen müssen, Behinderten einen Anspruch auf Eingliederungshilfe zuerkennt, wenn sie in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, wesentlich eingeschränkt sind. Insofern entfalle der Anspruch auf einen Regelkindergartenplatz aus § 24 SGB VIII in Verbindung mit § 12 Abs. 1 Kindertagesstättengesetz durch § 12 Abs. 2 Kindertagesstättengesetz nur, wenn die betroffenen Kinder der Art ihrer Behinderung nach nicht fähig sind, ohne besondere Hilfe in einem Regelkindergarten an den dort vorhandenen Betreuungsmöglichkeiten teilzuhaben.

In diesem Fall sei es auch unter Kindeswohlgesichtspunkten verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die behinderten Kinder auf einen Platz in einer integrierten Gruppe nach § 3 Abs. 6 Kindertagesstättengesetz, sofern dieser vorhanden ist, oder in eine teilstationäre Einrichtung gemäß § 12 Abs. 2 Kindertagesstättengesetz verwiesen würden. Auch in Bezug auf die Anwendung und Auslegung von § 12 Abs. 2 Kindertagesstättengesetz ist die Verfassungsbeschwerde nach Auffassung des Gerichts unbegründet. Insbesondere liege keine nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu beanstandende Benachteiligung der Beschwerdeführerinnen wegen ihrer Behinderung vor.

Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG seien Benachteiligungen verboten, die an eine Behinderung anknüpfen. Bevorzugungen mit dem Ziel der Angleichung der Verhältnisse von Nichtbehinderten und Behinderten seien dagegen erlaubt. Danach liege eine Benachteiligung nicht nur bei Regelungen und Maßnahmen vor, die die Situation des Behinderten wegen seiner Behinderung verschlechtern, indem ihm etwa der tatsächlich mögliche Zutritt zu öffentlichen Einrichtungen verwehrt wird oder ihm Leistungen, die grundsätzlich jedermann zustehen, verweigert werden. Vielmehr könne eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme hinlänglich kompensiert wird. Wann ein solcher Ausschluss durch Fördermaßnahmen so weit kompensiert ist, dass er nicht benachteiligend wirkt, lasse sich nicht generell und abstrakt festlegen, sondern sei zu beurteilen unter Berücksichtigung der mit dem Ausschluss einhergehenden spezifischen Förderung. Eine Entscheidung des Kinder- und Jugendhilfeträgers darüber, welcher Einrichtungsplatz behinderten Kindern zur Erziehung und Vorbereitung auf ein Leben in der Gemeinschaft mit Nichtbehinderten angeboten wird, verstößt nur dann gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, wenn sie den Umständen und Verhältnissen des jeweils zu beurteilenden Einzelfalls ersichtlich nicht gerecht wird.

So könnte der Verweis der Beschwerdeführerinnen auf Plätze in einem heilpädagogischen Kindergarten eine Benachteiligung wegen ihrer Behinderung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darstellen, wenn der von den Beschwerdeführerinnen begehrte Zugang zu einem Regelkindergarten ihren Fähigkeiten entspräche und überdies ohne besonderen zusätzlichen Betreuungsaufwand möglich wäre. Eine Verletzung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG könnte auch dann vorliegen, wenn die Überweisung an eine heilpädagogische Einrichtung erfolgte, obgleich der Besuch eines Regelkindergartenplatzes nach einer wertenden Gesamtbetrachtung des Einzelfalls durch einen vertretbaren Einsatz von sonderpädagogischer Förderung möglich wäre.

Die Gerichte hätten in den angegriffenen Entscheidungen in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Aufnahme der Beschwerdeführerinnen in einen Regelkindergarten verneint, so das BVerfG. Sie hätten festgestellt, dass eine Aufnahme der Beschwerdeführerinnen in die Integrationsgruppe des örtlichen Regelkindergartens nicht in Betracht komme, weil die dort vorhandenen Plätze besetzt waren. Dieser Umstand werde von den Beschwerdeführerinnen auch nicht substantiiert angegriffen. Vielmehr entspreche es ihrem ausdrücklichen Vorbringen, dass die Frage, ob der Kinder- und Jugendhilfeträger seinen Verpflichtungen zur Erweiterung des Integrationsangebots nachgekommen ist, nicht Anlass der Verfassungsbeschwerde sei. Die Bewertung des Oberverwaltungsgerichts, die Beschwerdeführerinnen seien aufgrund ihrer Erkrankung wesentlich behindert und könnten deshalb nicht in eine Regelkindergartengruppe aufgenommen werden, sondern müssten sich auf Plätze in einem heilpädagogischen Kindergarten verweisen lassen, sei jedenfalls im Rahmen des vorliegend von den Fachgerichten durchgeführten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nachvollziehbar und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Die Beschwerdeführerinnen hätten zwar sinngemäß dargelegt, die Gerichte hätten die von ihnen vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen nicht hinreichend berücksichtigt, die belegten, dass sie ausschließlich körperlich beeinträchtigt seien. Sie rügen in diesem Zusammenhang ebenfalls, es sei nicht ernsthaft geprüft worden, ob ihre Aufnahme in die Regelgruppe des örtlichen Kindergartens ihren Bedürfnissen entsprechen würde. Die darin enthaltene Rüge eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 3 GG oder einer Verletzung des rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG ist nach Ansicht des BVerfG jedoch unbegründet. Beide Grundrechte habe das Oberverwaltungsgericht beachtet. Zum einen habe das Gericht die ärztlichen Atteste angemessen berücksichtigt. Die von den Beschwerdeführerinnen selbst vorgelegten ärztlichen Atteste ergeben zwar, dass sie lediglich körperlich behindert sind. Die ärztlichen Stellungnahmen geben dementsprechend auch die Empfehlung ab, die Beschwerdeführerinnen möglichst frühzeitig mit Nichtbehinderten zusammen zu bringen. Die Stellungnahme des Universitätsklinikums zu Köln vom 9. September 2005 enthalte aber zugleich die Empfehlung, für den Fall, dass kein Platz in einer integrativen Kindergartengruppe zur Verfügung stehe, die Möglichkeit einer Einzelintegration der Patientinnen zu erwägen. Die von den Beschwerdeführerinnen begehrte Einbindung in eine Regelkindergartengruppe werde in keiner der vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen ersichtlich erwogen.

Zum anderen hätten die Beschwerdeführerinnen selbst dargelegt, dass bei ihnen Knochenbrüche in allen Lebenslagen auftreten könnten. Wenn sie hieraus ableiten, ihre Gefährdung im Regelkindergarten bestünde in gleicher Weise wie in einem heilpädagogischen Kindergarten, "anders lautende Meinungen" seien "aus der Luft gegriffen", dann sei dies nicht schlüssig. Da die Beschwerdeführerinnen in einem heilpädagogischen Kindergarten einer personell intensiveren Betreuung unterliegen, sei das Risiko von Knochenbrüchen dort wesentlich geringer als in einem Regelkindergarten. Dass die Beschwerdeführerinnen letztlich auch selbst eine für sie große Gefährdung im Regelkindergarten gesehen haben, zeige, dass sie im fachgerichtlichen Verfahren für den Fall ihrer Aufnahme in einen solchen die Schaffung eines "Schutzraums" für sie für erforderlich gehalten haben. Vor diesem Hintergrund sei die Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts nachvollziehbar, das Risiko von Verletzungen für die Beschwerdeführerinnen sei in einem Regelkindergarten gegenüber einem heilpädagogischen Kindergarten deutlich gesteigert. Es sei deshalb nicht zu beanstanden, dass das Gericht dem Begehren der Beschwerdeführerinnen aus diesem Grund nicht stattgegeben hat.

Ihr Ansprechpartner: Rechtsanwalt Dr. Alfred Stapelfeldt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht