Zahlungsverfügung für streitige Nachträge trotz Schlussrechnung

15.10.2021

Ein Unternehmer kann auch noch nach Fertigstellung seines Werks eine einstweilige Zahlungsverfügung gegen den Besteller wegen bauvertraglichen Nachtragsstreitigkeiten bis zum abschließenden Urteil im Hauptsacheverfahren erwirken. Das Kammergericht (KG) Berlin urteilte, dass der Eintritt der Schlussrechnungsreife hierfür unerheblich ist (Urteil vom 02.03.2021 – 21 U 1098/20).

Streitige Nachtragsforderungen

Das KG Berlin sollte über Nachtragsstreitigkeiten bei einem Bauvorhaben entscheiden. Der öffentliche Auftraggeber hatte mit dem Auftragnehmer mehrere VOB-Verträge über Spachtel- und Malerarbeiten geschlossen. Nachdem der Fachbetrieb Bedenken wegen des vorgeschriebenen Grundanstrichs angemeldet hatte, ordnete der Auftraggeber die Aufbringung eines „tragfähigen Haftgrunds“ an. Der Auftragnehmer führte die Arbeiten aus und verlangte für den ausgleichenden Haftputz und andere Nachträge in der siebten Abschlagsrechnung 80 % der hierfür errechneten Mehrvergütung. Gemäß § 650c Abs. 3 BGB kann der Unternehmer 80 % einer in seinem Angebot genannten Mehrvergütung ansetzen, wenn sich die Beteiligten nicht über deren Höhe geeinigt haben. Nach erfolgter Abnahme der Arbeiten stellte der Unternehmer die Schlussrechnung. Da der Besteller die Abschlagsrechnung nicht bezahlt hatte, beantragte der Unternehmer den Erlass einer einstweiligen (Leistung-) Verfügung, um dem Besteller zur Zahlung des Betrags von rund 309.000 Euro für die Nachtragsleistungen zu verpflichten.

In der ersten Instanz verlor der Auftragnehmer. Das Landgericht wies den Antrag als unbegründet zurück, da der Unternehmer nach gestellter Schlussrechnung keine Abschlagsrechnung mehr geltend machen und sich nicht mehr auf §§ 650c Abs. 3, 650d BGB berufen könne. Dem KG Berlin lag nun die Berufung des Unternehmers vor.

Entscheidung

Das KG Berlin gab dem Antrag nunmehr teilweise statt. Der Unternehmer ist nach der Rechtsauffassung des Gerichts dazu berechtigt, die Zahlung eines Teilbetrags in Höhe von 50.000 € für den aufgebrachten Haftputz, welcher nicht vom ursprünglichen Bausoll umfasst war, im Wege der einstweiligen Verfügung geltend zu machen.

Dabei stellte das Gericht zunächst fest, dass die Nachtragsregelungen der VOB eine Ausgestaltung der gesetzlichen Regelungen der §§ 650d, 650c BGB seien und diese daher beim Streit um Mehrvergütungen mit umfasst.

Soweit der Unternehmer glaubhaft machen könne, dass ihm aufgrund einer Mehrvergütung ein offener Vergütungsanspruch gegen den Besteller zustehe, habe der Vergütungsantrag Erfolg. Der Gesetzgeber gewähre dem Bauunternehmer durch § 650d BGB mit Blick auf sein Vorleistungsrisiko die Möglichkeit, wegen eines streitigen Vergütungsanspruchs zur Erhaltung seiner Liquidität eine einstweiligen Zahlungsverfügung gegen den Besteller zu erwirken. Dem Unternehmer soll kein erhöhtes Vorleistungsrisiko auferlegt werden, denn dieses entfällt nicht damit, dass mit dem Besteller keine Einigung über die Bezifferung der Nachtragsleistungen erzielt wird.

Für die vorübergehende Liquiditätssicherung sei im Interesse des Unternehmers die Stellung der Schlussrechnung daher unerheblich. Auch die 80 %-Regelung steht dem nicht entgegen. Denn diese stellt nur ein einseitiges Preisbestimmungsrecht zugunsten des Unternehmers dar, um den Einsatz der beiden Druckmittel „Leistungseinstellung“ und „Kündigung“ risikofrei zu gestalten. Das Liquiditätsbedürfnis des Unternehmers und die Dringlichkeitsvermutung würden dadurch nicht beschränkt.

Reichweite der Dringlichkeitsvermutung?

Das Gericht hält die Dringlichkeitsvermutung auch nach Stellung der Schlussrechnung für anwendbar. Wäre dies nicht der Fall, könnte der Besteller durch eine Schlussrechnungskürzung dem Unternehmer die erstrittene Liquidität wieder entziehen. Zu diesem Zeitpunkt kann der Unternehmer auch nicht mehr kündigen oder eventuelle Leistungen einstellen. Das Gesetz wäre in der Baupraxis andernfalls sinnentleert, wenn es nicht bis zur Entscheidung über die streitigen Nachtragsforderungen anwendbar wäre. Das Vorleistungsrisiko des Auftragnehmers und sein Bedürfnis, für erbrachte Leistungen zumindest vorübergehende Liquidität zu erhalten, endet nicht mit Abschluss der Arbeiten. Das gilt für ursprünglich vereinbarten Arbeiten genauso wie für eventuelle Änderungsleistungen. Dabei stellt das Gesetz auf den Baubeginn ab und definiert nicht das Ende seines Geltungsbereichs. Die Vorschrift ist aus Sicht des Unternehmers eine Möglichkeit zur schnellen (vorübergehenden) Klärung von Streitigkeiten während der Bauphase. Dem Unternehmer soll die Durchsetzung einer anordnungsbedingten Forderung auf Abschlagszahlungen erleichtert werden. Als Vorleistungspflichtiger genießt der Unternehmer hier besonderen Schutz.

Das KG Berlin hat die konkrete Reichweite der Dringlichkeitsvermutung offengelassen. Gewisse Bedenken können in Bezug auf die Bauhandwerkersicherung des §§ 650f BGB bestehen, da dieser seine Geltung auch nach der Abnahme ausdrücklich vorschreibt. Von einer ausgedehnten Anwendung des §§ 650d BGB ist nicht auszugehen, da die Gefahr von Verzögerungen des Bauablaufs durch Leistungsverweigerung oder Kündigung wegen streitiger Mehrforderungen nach Stellung der Schlussrechnung nicht mehr besteht.

Fazit

Die Entscheidung hat erhebliche Bedeutung für die Praxis. § 650d BGB eröffnet die Möglichkeit, Nachtragsstreitigkeiten im einstweiligen Verfügungsverfahren zu regeln und den mit dem Vorleistungsrisiko behafteten Auftragnehmer vor Liquiditätsverlust zu schützen. Der erstrittene Liquiditätszufluss verbleibt bis zur abschließenden Klärung der Mehrvergütung aus dem streitigen Nachtrag beim Unternehmer. Der Schlussrechnungssaldo muss hierfür die Nachtragsvergütung mit umfassen, wobei die Zahlungsverfügungen summenmäßig durch die Höhe der streitigen Nachtragsforderung begrenzt wird. Da sich eine Werklohnklage aus der Schlussrechnung unter Umständen über Jahre hinziehen kann, bietet dies dem Unternehmer eine Möglichkeit zur Liquiditätsschaffung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptverfahrens. Dabei ist aber stets das Bestehen der Nachtragsforderung dem Grunde und der Höhe nach darzulegen und glaubhaft zu machen.

Über § 650c Abs. 3 BGB kann in diesem Zusammenhang der Vergütungsanspruch geltend gemacht werden. Das Gericht stellte jedoch heraus, dass die 80 %-Regelung nur ein vorläufiges einseitiges Preisbestimmungsrecht für den Unternehmer im Falle einer geänderten Leistung darstellt. Die Höhe einer Mehrvergütung kann durch den Unternehmer nicht per se ohne Berücksichtigung der Interessen des Bestellers festgesetzt werden. Dies sei vielmehr letztlich Sache des Gerichts.