HOAI-Mindestsätze zwischen Privaten weiter anwendbar

15.03.2022

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte bereits die Unvereinbarkeit der in der deutschen Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) geregelten Mindesthonorare mit der europarechtlichen Dienstleistungsrichtlinie festgestellt. Gleichwohl kommt er in einer neueren Entscheidung (Urteil vom 18.01.2022 – C-261/20) zu dem Ergebnis, dass deutsche Gerichte die Regelung bei Rechtsstreiten zwischen privaten Parteien weiter anwenden dürfen, und stellt einen möglichen Schadensersatzanspruch gegen den Staat in Aussicht.

Europarechtswidrigkeit der HOAI

In seiner Entscheidung vom 04.07.2019 (C-377/17) hielt der EuGH das gesetzliche Preisrahmenrecht der HOAI 2013 für nicht vereinbar mit der EU-Dienstleistungsrichtlinie 2006/123. Die Regelung verstoße gegen Art. 15 Abs. 1, da sich aus der HOAI 2013 keine Qualifikations- und Berufszugangsregelung ergeben. Hiernach könne sie hohe Qualitätsstandards und den Verbraucherschutz nicht sichern. Aus der Sicht des EuGHs stellte die HOAI 2013 daher keine zulässige Ausnahme zur Dienstleistungsrichtlinie dar.

Aus der ursprünglichen Entscheidung des EuGHs folgte, dass das Preisrahmenrecht der HOAI der Reform bedurfte. Das Honorar müsse letztlich allein auf der vertraglichen Vereinbarung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer beruhen. Mit der HOAI 2021 wurden die Preisvorgaben abgeschafft. Dennoch war unklar, wie in der Zwischenzeit mit aktuell bestehenden oder noch abzuschließenden Verträgen umzugehen war. Die nationale Rechtsprechung war sich uneinig, ob das zwingende Preisrahmenrecht der HOAI bis zur Reform 2021 noch verbindlich für Altverträge galt oder das Honorarrecht durch die Gerichte umgehend nicht mehr anzuwenden war.

Privater Rechtsstreit um Anwendbarkeit der HOAI-Mindestsätze

Diese Frage klärte nunmehr ein Rechtsstreit zwischen zwei Privatpersonen. Eine Bauherrin beauftragte 2016 mit einem HOAI-Pauschalhonorarvertrag einen Ingenieur mit Planungsleistungen für ein Bauvorhaben. Als eine Partei den Vertrag ein Jahr später kündigte, rechnete der Ingenieur seine Leistungen nach den HOAI-Mindestsätzen in der Honorarschlussrechnung ab und berief sich auf die Unwirksamkeit der Honorarvereinbarung.

Nachdem der Ingenieur in den ersten beiden Instanzen Recht bekommen hatte, legte die Bauherrin Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) ein. Da der BGH sich durch die Rechtsprechung des EuGHs an der Klärung des Rechtsstreits gehindert sah, legte er dem EuGH erneut die Frage vor, inwieweit die Mindestsätze der HOAI verbindlich Wirkung entfalten und durch deutsche Gerichte angewendet werden dürfen.

Gerichte dürfen HOAI-Mindestsatz-Regelung anwenden

Der Gerichtshof sorgte wieder für eine Überraschung! Mit seinem Urteil vom 18.01.2022 erkennt er an, dass nationale Gerichte nicht allein aufgrund von Unionsrecht verpflichtet sind, nationale Regelungen unangewendet zu lassen. Es gäbe keine europarechtlichen Bestimmungen, die deutschen Gerichten die Anwendung eines nationalen Gesetzes ab sofort verböte. Nach seiner Ansicht kann sich bei einem Rechtsstreit zwischen Privaten keine Partei auf die Bestimmung einer Richtlinie berufen, denn eine europäische Richtlinie verpflichte in erster Linie immer nur den Staat. Die nationalen Gerichte seien zwar grundsätzlich verpflichtet, dem Unionsrecht Vorrang einzuräumen und europarechtswidrige Bestimmungen nicht anzuwenden. Jedoch gilt dies nur für solche Bestimmungen, die eine unmittelbare Wirkung entfalten. Hierzu gehören europäische Richtlinien eben nicht. Dies gilt auch, wenn der deutsche Gesetzgeber seiner Verpflichtung zur fristgerechten Umsetzung von EU-Recht nicht nachgekommen ist.

Praxisfolgen für Planungsverträge

Architekten und Ingenieure können bei Honorarverträgen, die bis zum 31.12.2020 abgeschlossen wurden, nun doch eine Aufstockung verlangen, wenn das Honorar geringer als eine Berechnung nach dem Mindestpreisrecht der HOAI 2013 ausfällt. Auftraggeber werden sich in Altverträgen neuen Forderungen und Klagen aus Mindestsatzunterschreitungen ausgesetzt sehen. Dabei haben nur solche Auftraggeber Glück, bei denen ein Gericht bereits rechtskräftig festgestellt hat, dass dem Planer ein Rückgriff auf die Mindesthonorare der HOAI verwehrt bleibt.

Das Urteil hat zudem noch eine weitere Bedeutung für Auftraggeber. Der Gerichtshof stellte nämlich heraus, dass wegen der Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht Schadensersatzansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland bestehen dürften, da der Verstoß gegen das Unionsrecht eine Pflichtverletzung darstellt. In dieser Konstellation können vorwiegend private Auftraggeber Geschädigte sein, die das Honorar ihres Architekten nun aufstocken müssen. Denn wäre die neue HOAI ohne verbindliches Preisrecht rechtzeitig gekommen, wären die Honorarvereinbarungen ohne zwingendes HOAI-Preisrecht wirksam geblieben. In dieser Unterlassung des Staates sieht der EuGH schon einen möglichen erstattungsfähigen Amtshaftungsanspruch.

Eine weitere rechtliche Diskussion könnte sich hinsichtlich der Anwendbarkeit des HOAI-Preisrechts in Altverträgen mit öffentlichen Auftraggebern ergeben. Diese sind als Teil der öffentlichen Hand unmittelbarer Adressat der Dienstleistungsrichtlinie. Die Höchst- und Mindestsätze durften von öffentlichen Auftraggebern also schon vor Inkrafttreten der HOAI 2021 bei Verträgen mit ihren Planern nicht mehr verbindlich vorgegeben werden. Diese Planer könnten sich damit schlechter gestellt sehen, als wenn ihr Vertragspartner eine private Person wäre - eine Rechtsfrage, die wahrscheinlich wieder vom EuGH beantwortet werden muss.