Vergabekammer Lüneburg: Aufhebung der Ausschreibung bei einem nichtwirtschaftlichen Ergebnis?

06.11.2017

Zugrundeliegender Sachverhalt

Die Auftraggeberin (die spätere Antragsgegnerin) hat im Jahr 2016 im Rahmen eines Neubaus bzw. der Sanierung eines Hallenbades den Neubau einer Energiezentrale zur Wärme- und Stromerzeugung europaweit im offenen Verfahren losweise in drei Losen als Bauleistung ausgeschrieben. Los 1 bezog sich auf Erdarbeiten und Außenanlage, Los 2 auf den Hochbau und Los 3 auf die Energieanlage inklusive Heizung-, Sanitär- und Elektroarbeiten. Einziges Zuschlagskriterium für sämtliche Lose war der niedrigste Preis.

Auf das Los 3 wurden bis zum Ende der Angebotsfrist zwei Angebote abgegeben. Das abgegebene Angebot der Antragstellerin lag ca. 40 %, das Angebot des zweiten Bieters sogar ca. 73 % über dem geschätzten Auftragswert. Aufgrund der erheblichen Überschreitung der geschätzten Auftragswerte auch bei den Losen 1 und 2 wurde das Vergabeverfahren insgesamt aufgehoben, da kein wirtschaftliches Angebot eingegangen sei.

Mit ihrem Schreiben vom 18.01.2017 rügte die Antragstellerin das Vergabeverfahren. Nachdem die Antragsgegnerin der Rüge nicht abhalf, leitete die Antragstellerin in der Folge fristgemäß das Nachtprüfungsverfahren ein.

Nach Auffassung der Antragstellerin lag schon überhaupt kein Aufhebungsgrund im Sinne des § 17 EU Abs. 1 Nr. 1 VOB/A 2016 vor. Das abgegebene Angebot der Antragstellerin habe nämlich den Ausschreibungsbedingungen entsprochen. Der Umstand alleine, dass dieses oberhalb der Kostenschätzung der Antragsgegnerin gelegen habe, soll keinen entsprechenden Aufhebungsgrund darstellen. Auch lag kein anderer schwerwiegender Grund gemäß § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A 2016 für eine Aufhebung vor, da die Antragsgegnerin in ihrer Kalkulation bereits die erwarteten Angebotspreise vorab nicht sachgerecht berechnet habe: Die ausgewiesenen Preise wären bereits nicht realistisch und entsprächen weder ortsüblichen noch angemessenen Preisen.

Die Antragsgegnerin wandte dagegen ein, dass ihre Kostenschätzung nach den Vorgaben der DIN auf der Basis marktüblicher Preise erstellt worden wäre. Da aufgrund der massiven Überschreitung der zutreffend ermittelt Kostenschätzung der Antragsgegnerin auch ein Aufhebungsgrund vorgelegen habe, läge auch keine Scheinaufhebung vor.

Zur Möglichkeit der Abstandnahme vom Beschaffungsvorhaben

Zunächst stellte die Vergabekammer fest, dass es der Vergabestelle grundsätzlich unbenommen bleibt, von einem Beschaffungsvorhaben auch in Fällen Abstand zu nehmen, wenn dafür kein in den Vergabe- und Vertragsordnung anerkannter – etwa nach § 17 EU Abs. 1 VOB/A 2016 – Aufhebungsgrund vorliegt. Wird aber ein Verfahren ohne das Vorliegen eines Aufhebungsgrundes aufgehoben, so ist die Aufhebung (vergabe-)rechtswidrig, was im Ergebnis zu Schadenersatzansprüchen der an der Ausschreibung beteiligten Unternehmen führen kann.

Die (rechtmäßige) Aufhebung eines auf die Vergabe von Bauleistungen gerichteten Vergabeverfahrens ist hingegen nur aus den in § 17 EU Abs. 1 VOB/A 2016 genannten Gründen zulässig. Die dort normierten Aufhebungstatbestände sind abschließend geregelt und eng auszulegen. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Aufhebungsgründen trifft den jeweiligen Auftraggeber.

Deutliche Überschreitung des geschätzten Auftragswerts erforderlich

Sodann beschäftigte sich die Vergabekammer mit den konkreten Voraussetzungen der Rechtfertigungstatbestände der Nummer 1 und der Nummer 2 des § 17 EU Abs. 1 VOB/A 2016. Nach der Auffassung der Vergabekammer – unter Bezugnahme auf die Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH, Beschluss vom 20.11.2012 – Az: X ZR 108/10) – setzt eine derartige begründete (rechtmäßige) Aufhebung in jedem Fall eine deutliche Überschreitung des durch den Auftraggeber vertretbar geschätzten Auftragswertes voraus.

Wirklichkeitsnahe Kostenschätzung

Als vertretbare Auftragsschätzung kann hierbei auch nur eine Kostenschätzung gelten, die wirklichkeitsnah ist. Erforderlich ist demnach eine korrekt und zeitnah sowie vor der Bekanntmachung stets anzupassende Kostenschätzung des Auftraggebers im Vorfeld des Vergabeverfahrens sowie gegebenenfalls Kostenvergleichslisten. Der Auftraggeber hat demnach den Sachverhalt zutreffend und vollständig zu ermitteln und alle zu vergebenden Leistungen in die Kostenberechnung mit einzubeziehen.

Angemessen und methodisch vertretbar

Im Ergebnis muss daher eine objektiv ordnungsgemäße Kostenschätzung durch den Auftraggeber auf der Grundlage aller verfügbaren sowie Kosten relevanten Faktoren und Daten angemessen und methodisch vertretbar erfolgen.

Keine zeitnahe Kostenschätzung

Da der streitgegenständlichen ex-ante-Schätzung bereits keine zeitnah im Vorfeld der Vergabebekanntmachung ermittelten Marktdaten oder Angebote zugrunde gelegt wurden – der Kostenschätzung lagen lediglich undatierte Angebote sowie Angebote aus dem Jahr 2015 vor –, sah die Vergabekammer die Anforderungen der Rechtsprechung an eine ordnungsgemäße Kostenschätzung als nicht erfüllt an.

Methodische Mängel durch Streichung von Positionen

Auch hat die Antragsgegnerin zudem Streichungen von vermeintlich nicht notwendigen Positionen aus den als Grundlage für die Kostenschätzung eingeholten Angeboten vorgenommen. Dieses Vorgehen ist zwar per se nicht zu beanstanden, wenn es sich bei den gestrichenen Positionen tatsächlich nur um unnötige Positionen handelt. Da sich aber die Streichung vorliegend teilweise auch auf Positionen bezog, die notwendigerweise auch von den Bietern bei ihrer Kalkulation zu berücksichtigen waren – etwa Kostenansätze für Montage und Inbetriebnahme – lagen damit nach Auffassung der Vergabekammer zudem methodische Mängel vor, die zumindest das Risiko für einen unrealistischen Kostenansatz bei der Antragsgegnerin erhöhten.

Keine Aufhebung nach § 17 EU Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 3 VOB/A 2016

Da die Antragsgegnerin nach Auffassung der Vergabekammer damit bereits keine vertretbare ex-ante-Schätzung nachweisen konnte, konnte ihre Aufhebung der Ausschreibung daher auch nicht auf einen Rechtfertigungsgrund nach § 17 EU Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 3VOB/A gestützt werden.

Anerkennenswerter sachlicher Grund

Allerdings nahm die Vergabekammer zugunsten der Antragsgegnerin einen anerkennenswerten sachlichen Grund für die Aufhebung an. Ein die Aufhebung sachlich rechtfertigender Grund wird etwa in Fällen angenommen, in denen der Auftraggeber aus haushaltsmäßigen Gründen auf die konkret ausgeschriebene Beschaffung verzichten muss, weil er entweder dafür keine Mittel (mehr) in der benötigten Höhe zu Verfügung hat oder ihm die Beschaffung schlicht zu teuer ist. Da die Antragsgegnerin im Nachprüfungsverfahren darlegen konnte, dass die Angebotspreise auch für das verfahrensgegenständliche Los 3 selbst unter Zugrundelegung des günstigsten Angebots der Antragstellerin noch mindestens 30 % über den von ihr erwarteten und im Haushalt eingeplanten Kosten lag, war nach Ansicht der Vergabekammer eine Verpflichtung zu Rückgängigmachung der Aufhebung und Zuschlagserteilung auf das Angebot der Antragstellerin nicht gerechtfertigt.