OLG Rostock: Verzögerte Zuschlagserteilung - Pflicht zum Ersatz der Vorhaltekosten nach § 642 BGB analog?

28.08.2017

Zugrundeliegender Sachverhalt

Ein öffentlicher Auftraggeber (die spätere Beklagte) schrieb Leistungen der Verkehrsführung und Verkehrssicherung öffentlich aus. Als Ausführungsfrist war vorbehaltlich der Zuschlagserteilung des Bauhauptloses in den Vergabeunterlagen der Zeitraum September 2004 - April 2006 angegeben.

Nach den Ausschreibungsbedingungen war die spätere Klägerin an ihr Angebot (zunächst) gebunden bis Ende der Zuschlagsfrist am 02.09.2004. Nach dem Submissionsergebnis vom 19.08.2014 war das Angebot der Klägerin das günstigste Angebot gewesen, wovon die Klägerin noch am gleichen Tag Kenntnis erlangt hat.

Auf Bitten der Beklagten verlängerte die Klägerin die Bindefrist ihres Angebots zunächst bis zum 29.10.2004, dann bis zum 30.03.2005, weiter bis zum 30.06.2005, sodann bis zum 31.10.2005 und schließlich bis zum 31.03.2006 – mithin insgesamt fünf Mal. Am 30.03.2006 erging der Zuschlag an die Klägerin.

Bereits seit 2005 hat die Klägerin wegen der enormen Verzögerung im Vergabeverfahren ihre für den Auftrag vorgehaltenen mobilen Stahlgleitwände – soweit möglich – auf anderen Baustellen eingesetzt.

Die Klägerin forderte in der Folge von der Beklagten die Vergütung ihrer Mehrkosten aus der Vorhaltung der Stahlgleitwände für die Zeit der fünfmaligen Verlängerung der Zuschlagsfrist, soweit diese nicht anderweitig eingesetzt werden konnten, sowie den AGK (Allgemeine Geschäftskosten)-Zuschlag

Das Landgericht Schwerin wies die Klage in der ersten Instanz ab. Zur Begründung führte das Landgericht Schwerin im Wesentlichen aus, dass in Ermangelung eines bestehenden Vertrages (der Zuschlag ist erst am 30.03.2006 erfolgt) kein Annahmeverzug der Beklagten vorläge. Darüber hinaus hatte die Beklagte die verzögerte Zuschlagserteilung auch nicht zu vertreten. Gegen dieses Urteil wandte sich die Klägerin mit ihrer Berufung an das OLG Rostock.

Entschädigungsanspruch nach § 642 BGB analog

Das OLG Rostock sah das anders und stellte zunächst fest, dass der werkvertragliche Entschädigungsanspruch nach § 642 BGB auch bereits vor der Zuschlagserteilung, mithin auch vor dem Vertragsschluss, entsprechend Anwendung finden kann.

Planwidrige Regelungslücke

Eine gesetzliche Regelung zu einer verschuldensunabhängigen vorvertraglichen Haftung des Auftraggebers im Falle unterbliebener bzw. verzögerter Mitwirkung bei öffentlichen Ausschreibungen fehlt. Die durch den Bundesgerichtshof zur Behandlung verzögerter Vergabeverfahren aufgestellten Grundsätze sind nach Ansicht des OLG Rostock auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. So steht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dem Auftragnehmer in Anlehnung an die Grundsätze des § 2 Abs. 5 VOB/B ein Mehrvergütungsanspruch zu, wenn infolge einer verzögerten Vergabe sich Bauzeit/Ausführungsfristen, somit Leistungspflichten des Auftragnehmers ändern und dadurch Mehrkosten entstehen (vgl. BGH, Urteil v. 11.05.2009 – Az: VII ZR 11/08; Urteil v. 18.12.2014 – Az: VII ZR 60/14). Demgegenüber sind die mit der Klage geltend gemachten Vorhaltekosten allein schon aus dem für das Vergabeverfahren notwendigen „Standby“ des Bestbieters innerhalb der Bindefrist entstanden, im Ergebnis damit gerade keine infolge der Leistungsverschiebung bedingten Mehrkosten im Sinne der BGH-Rechtsprechung. Das OLG Rostock bejaht somit das Bestehen einer planwidrigen Regelungslücke.

Wertungswiderspruch zu § 642 BGB

Angesichts der vergleichbaren Konstellation zu den von § 642 BGB erfassten Fällen sieht das OLG Rostock einen Wertungswiderspruch, wenn in Fällen einer verzögerten Vergabeentscheidung der Bestbieter allein das damit verbundene Verzögerungsrisiko tragen soll. Das infolge von Verzögerungen im Vergabeverfahren bedingte Vorhalten von Leistung (Arbeitskraft, Gerät und Kapital) des Bestbieter entspricht nach Auffassung des Gerichts dem vertraglichen Vorhalten der Leistungen bei einem Annahmeverzug des Bestellers gemäß § 642 BGB: Bis zum Ablauf der Zuschlagsfrist ist der Bieter an sein Angebot preislich gebunden; darüber hinaus erklärt er, zu den in der Ausschreibung festgelegten Ausführungsterminen leistungsbereit zu sein. Andernfalls liefe der Bestbieter Gefahr, die regelmäßig kurz nach Ablauf der Zuschlagsfrist beginnende Ausführungsfrist nicht einhalten zu können und mit der von ihm zu erbringenden Leistung in Verzug zu geraten. Der Bestbieter darf auch grundsätzlich auf die ohne schuldhaftes Zögern zu erteilende Vergabe des öffentlichen Auftrags vertrauen.

Keine andere Risikozuweisung durch fehlende Zuschlagserteilung

Allein der Umstand, dass noch keine Zuschlagserteilung erfolgt ist, mithin es an einem wirksamen Vertragsschluss ermangelt, vermag an der im Werkvertragsrecht vorgenommenen Risikozuweisung nichts zu ändern. Dies erscheint insbesondere vor dem Hintergrund sachgerecht, dass es alleine in der Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers liegt, ob er bei einer erheblichen Verzögerung im Vergabeverfahren gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A wegen „anderer schwerwiegender Gründe“ neu ausschreibt oder das Kostenrisiko zu tragen bereit ist.

Auch AGK-Zuschlag erfasst

Der Entschädigungsanspruch umfasst nach Auffassung des OLG Rostock auch die allgemeinen Geschäftskosten, da der Auftragnehmer diese Kosten in der Regel nicht ersparen kann.

 

Im Ergebnis gab das OLG Rostock der Klage in vollem Umfang statt.

 

Praxistipp:

Gegen das Urteil wurde Revision eingelegt (Az: VII ZR 81/17), sodass das Urteil (noch) nicht rechtskräftig ist. Es bleibt abzuwarten, wie der BGH die durch das OLG Rostock gewählte dogmatische Konstruktion einer Analogie des § 642 BGB bewerten wird.