VK Südbayern: Sanktionslose Aufhebung der Ausschreibung bei Überschreitung des Auftragswertes möglich?

17.08.2015

Die Antragsgegnerin hat mit europaweiter Bekanntmachung die Vergabe der Lieferung von OP-Tischsystemen mit Patienten-Lagerflächen und Zubehör für eine Klinik ausgeschrieben. Die Vergabe erfolgt als Gesamtauftrag. Nebenangebote waren nicht zugelassen.Der Zuschlag sollte auf das wirtschaftlich günstigste Angebot erfolgen.Lediglich die Antragstellerin und die Beigeladene haben fristgerecht Angebote abgegeben; die Beigeladene mit dem preislich niedrigsten Angebot nach der Niederschrift zur Angebotseröffnung. Die Antragsgegnerin wurde darüber informiert, dass beabsichtigt sei, den Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen zu erteilen. Daraufhin rügte die Antragstellerin, dass nach ihrer Marktkenntnis das Produkt der Beigeladenen nicht über verschiedene im Leistungsverzeichnis geforderte Funktionen bei Position 01.01.0002 (Infrarotfernbedienung bei OP-Tischsäule stationär), Position 01.01.0004 (Infrarotfernbedienung - des Bediengeräts), Position 01.01.005 (Induktive Ladevorrichtung der stationären Ladestation für Fernbedienung) und Position 01.01.0019 (Schneller Umbau eines Normaltisches zu einem Extensionstisch) verfüge.Nachdem die Rüge der Antragstellerin zurückgewiesen wurde, leitete diese ein Nachprüfungsverfahren wegen mehrerer Verstöße gegen das Gebot der produktneutralen Ausschreibung in § 8 EG Abs. 7 Satz 1 VOL/A 2009 ein. Das Vergabeverfahren wurden wegen des Vorliegens eines anderen schwerwiegenden Grundes nach § 20 EG Abs. 1 lit d VOL/A aufgehoben. Die Antragstellerin rügte die Aufhebung und wandte sich gegen die Erledigung des Nachprüfungsverfahrens.

Nach Auffassung der Vergabekammer zu Recht, denn ist die Aufhebung der Ausschreibung in vergaberechtswidriger Weise erfolgt, kann ein drohender Schaden i. S. des § 107 Abs. 2 GWB für einen sich gegen die Aufhebung wendenden Bieter nur dann verneint werden, wenn bei unterstellter vergaberechtskonformer Handlungsweise des öffentlichen Auftraggebers ein Zuschlag auf dessen Angebot mit Sicherheit nicht ausgeschlossen werden kann (OLG München, Beschluss vom 23.12.2010, Verg 21/10). Da vorliegend dieser Vorwurf erst noch geprüft werden muss und damit ein Zuschlag auf das Angebot der Antragstellerin nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, war die Antragsbefugnis der Antragstellerin vorliegend zu bejahen.

Nach Auffassung der Vergabekammer konnte die Aufhebung der Ausschreibung hier nicht rechtmäßig nach § 20 EG Abs. 1 lit. c VOL/A erfolgen, da nach dieser Vorschrift ein Vergabeverfahren aufgehoben werden kann, wenn es kein wirtschaftliches Ergebnis gehabt hat.Die Wirtschaftlichkeit eines Angebots bemisst sich letztlich danach, ob ein Angebot im Preis unangemessen von der Leistung abweicht (VK Nordbayern, B. v. 27.06.2008 - Az.: 21.VK - 3194 - 23/08). Ähnlich wie bei § 19 EG Abs. 6 Satz 2 VOL/A ist die Angemessenheit des Angebotspreises anhand einer gesicherten Tatsachengrundlage durch eine Betrachtung des Preis-Leistungs-Verhältnisses zu ermitteln. Der Gesamtpreis des Angebots ist in Relation zum Wert der angebotenen Leistung zu setzen.Der Wert der Leistung muss nach objektiven Gesichtspunkten bemessen werden. Die Erwartungen der Vergabestelle können nicht den Wert der ausgeschriebenen Leistungen bestimmen. Gegen eine subjektive Wertbestimmung spricht zum einen der Wortlaut der Bestimmung sowie das andererseits die Gefahr bestünde, dass die Vergabestelle durch eine dann auch nicht mehr zu überprüfende Wertbestimmung vergaberechtliche Vorschriften umgehen kann.Sofern die Schätzung nachvollzieh- und vertretbar ist, kann der geschätzte Betrag in die Vergleichsbewertung als Wert der Leistung eingestellt werden. Die von der Vergabestelle vorgenommene Kostenschätzung kann dann Grundlage einer Ausschluss- bzw. Aufhebungsentscheidung sein, wenn die vorgenommene Kostenschätzung vertretbar erscheint und die Vergabestelle Methoden gewählt hat, die ein wirklichkeitsnahes Schätzungsergebnis ernsthaft erwarten lassen (vergleiche BGH Urteil vom 20. November 2012 – Az.: X ZR 108/10). Insbesondere muss die Kostenschätzung sorgfältig unter Heranziehung aller möglichen Erkenntnisquellen und in Übereinstimmung mit den Positionen des Leistungsverzeichnisses erstellt sein (OLG München, B. v. 07.03.2013 - Az.: Verg 36/12). Die Aufhebung der streitgegenständlichen Ausschreibung konnte auch nicht rechtmäßig nach § 20 EG Abs. 1 lit. d VOL/A erfolgen, da hiernach ein Vergabeverfahren aufgehoben werden kann, wenn andere schwerwiegende Gründe für eine Aufhebung bestehen.Nicht jedes rechtlich oder tatsächlich fehlerhafte Verhalten der Vergabestelle reicht zur Begründung aus. Nach der Rechtsprechung des BGH sind hier strenge Maßstäbe anzulegen. Ein Aufhebungsgrund ist daher nur dann zu bejahen, wenn einerseits der Fehler von so großem Gewicht ist, dass ein Festhalten des öffentlichen Auftraggebers an dem fehlerhaften Verfahren mit Gesetz und Recht schlechterdings nicht zu vereinbaren wäre und andererseits von den Bietern, insbesondere auch mit Blick auf die Schwere des Fehlers, erwartet werden kann, dass sie auf die Bindung des Ausschreibenden an Recht und Gesetz Rücksicht nehmen (OLG München, B. v. 04.04.2013 - Az.: Verg 4/13; B. v. 27.01.2006 - Az.: VII - Verg 1/06; OLG Dresden, B. v. 28.03.2006 - Az.: WVerg 0004/06).

Im vorliegenden Fall lagen somit nicht die von der Antragsgegnerin vorgebrachten schwerwiegenden Gründe vor, sondern es lagen die von der Antragstellerin vorgebrachten schwerwiegenden Gründe für die Aufhebung des Vergabeverfahrens vor, nämlich unter anderem Verstöße gegen das Gebot der produktneutralen Ausschreibung in § 8 EG Abs. 7 Satz 1 VOL/A. Diese Gründe waren aber von der Vergabestelle verursacht, so dass hier eine sanktionslose Aufhebung der Ausschreibung nicht in Betracht kam.

Praxishinweis:

Diese Entscheidung zeigt, dass im Hinblick auf die Aussicht einer sanktionslosen Aufhebung der Ausschreibung besonderes Augenmerk auf die Aufhebungsgründe zu richten ist. Grundsätzlich kann jedoch die Frage, wann ein vertretbar geschätzter Auftragswert so deutlich überschritten ist, dass eine sanktionslose Aufhebung der Ausschreibung gerechtfertigt ist, nicht durch allgemeinverbindliche Werte nach Höhe oder Prozentsätzen beantwortet werden (vgl. (BGH, Urteil vom 20.11.2012 - Az.: X ZR 108/10). Vielmehr ist eine alle Umstände des Einzelfalls einbeziehende Interessenabwägung vorzunehmen.