Legastheniker hat bei Prüfung Anspruch auf Schreibzeitverlängerung

01.01.2012

Legastheniker hat bei Prüfung Anspruch auf Schreibzeitverlängerung

Mit Beschluss vom 03.01.2006 (8 TG 3292/05) hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Kassel entschieden, dass ein anerkannter Legastheniker im Rahmen der zweiten juristischen Staatsprüfung für die Anfertigung der Aufsichtsarbeiten eine angemessene Schreibzeitverlängerung beanspruchen kann. Allerdings müsse er hierfür ein amtsärztliches Gutachten vorlegen, dass seine Legasthenie nachweist.

Der Anspruch auf Schreibzeitverlängerung für einen Legastheniker ergebe sich aus dem durch Art. 3 Grundgesetz (GG) geschützten Recht auf Chancengleichheit im Prüfungsverfahren. Der VGH stellt in seiner Entscheidung klar, dass ein Legastheniker in seiner intellektuellen Fähigkeit, einen juristischen Fall zu durchdringen und in angemessener Zeit eine Lösung zu entwickeln, nicht behindert ist. Ihm sei nur die "technische Umsetzung" der vorhandenen geistigen Fähigkeiten erschwert. Seine Probleme lägen nur darin, dass er im Rahmen der technischen Fertigkeit des Lesens und auch in der technischen Fertigkeit des Schreibens behindert sei. Insofern sei er im Rahmen der Prüfungssituation Menschen mit dauerhaften schweren körperlichen Behinderungen, wie zum Beispiel Blinden, gleichzustellen. Für diese sei allgemein anerkannt, dass Schreibzeitverlängerungen angemessenen Umfangs zu gewähren seien. Dagegen könnten Prüflinge, die - auch genetisch bedingt - auf Dauer in ihrer intellektuellen Fähigkeit beschränkt seien, keine Schreibzeitverlängerung verlangen.

Damit erteilte der VGH auch der Auffassung des Verwaltungsgerichts (VG) eine Absage, wonach die Leistungsminderung eines Legasthenikers das «normale» Leistungsbild des Prüflings bestimme. Das VG hatte einen Anspruch auf Schreibzeitverlängerung verneint, weil es die Legasthenie als für die Beurteilung der Befähigung bedeutsam erachtet hatte, die durch die Prüfung festgestellt werden solle. Vergleichbaren Situationen werde ein Legastheniker nämlich im Laufe seines Berufslebens immer wieder ausgesetzt, so die Argumentation in der Entscheidung der I. Instanz.

Berufe sich ein Prüfling zur Erlangung einer Schreibzeitverlängerung auf eine Legasthenie, könne ein entsprechender Anspruch allerdings nur dann bestehen, wenn die Legasthenie durch ein amtsärztliches Gutachten nachgewiesen sei, so der VGH. Dies war hier der Fall. Das Bezirksamt Mitte von Berlin - Abteilung Gesundheit und Soziales, Gesundheits- und Veterinär- und Lebensmittelaufsichtsamt - Amts- und Vertrauensärztlicher Dienst - Standort Mitte - hat in seiner von einer Fachärztin für Innere Medizin verfassten - allerdings schon älteren - schriftlichen Stellungnahme ausgeführt, der Ast. sei Legastheniker und benötige aus diesem Grund mehr Zeit zur Bewältigung der Prüfungsklausuren. Die Legasthenie sei gekennzeichnet als Schwäche im Sinnverständnis des Lesens (bei hinreichender Intelligenz und normal neurologischem Befund), dadurch auch Rechtschreibschwierigkeiten mit Verwechseln von Buchstaben, teilweise mit Reihenfolgeumstellungen." Zur Bewältigung der Klausuren - die Stellungnahme betraf das erste juristische Staatsexamen des Ast. - empfahl die Fachärztin damals eine Schreibverlängerung von 60 Minuten pro Klausur, um dem Ast., der das Studium trotz Störung bewältigt habe, ausreichend Zeit zum Lesen und zum Korrekturlesen zu geben.

Der VGH habe keine Veranlassung, davon auszugehen, dass diese amtsärztliche Stellungnahme im 2. Staatsexamen keine Gültigkeit mehr habe. Vielmehr handele es sich bei der Legasthenie um einen Dauerzustand, wie er auch durch die vom Ast. vorgelegten Unterlagen belegt sei. In dem Humangenetischen Gutachten vom 27.12.2005 werde u. a. ausgeführt, dass auf Grund der vorliegenden Unterlagen bei dem Ast. eine genetisch bedingte Legasthenie vorliege. Es handele sich bei der Legasthenie um eine Teilleistungsstörung im schriftlichen Bereich, die jedoch mit keinerlei Einschränkungen der intellektuellen Funktion verbunden sei. Personen mit einer Legasthenie seien behindert i. S. des Art. 3 III Satz 2 GG. Der Begriff der Behinderung sei in § 2 SGB IX für alle Leistungsträger definiert. Danach seien Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abwichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt sei. Der Leiter des Instituts empfahl in dem humangenetischen Gutachten, dass die Behinderung des Ast. durch einen Nachteilsausgleich korrigiert werde.

Das VG habe zwar insoweit zu Recht darauf hingewiesen, dass Behinderungen, die lediglich den Nachweis einer uneingeschränkt vorhandenen Befähigung erschwerten und in dem angestrebten Beruf durch Hilfsmittel ausgeglichen werden könnten, in der Prüfung angemessen zu berücksichtigen seien. Es habe jedoch zu Unrecht das Vorliegen dieser Voraussetzung verneint und ausgeführt, bei der vom Ast. geltend gemachten Legasthenie handele es sich um einen Umstand, der sich als eine in seiner Person begründete, persönlichkeitsbedingte generelle Einschränkung seiner Leistungsfähigkeit darstelle. Diese Auffassung überzeuge nicht. Es sei allgemein anerkannt, dass Schreibzeitverlängerungen angemessenen Umfangs auch bei dauerhaften schweren körperlichen Behinderungen zu gewähren seien. Es seien keine sachlichen Gründe dagegen ersichtlich, dass dies auch im Falle sonstiger Dauerbehinderungen gelte, die - wie die Legasthenie - die Fähigkeit, einen juristischen Fall zu durchdringen und in angemessener Zeit eine Lösung zu entwickeln, unberührt lassen, und nur die technische Umsetzung der vorhandenen geistigen Fähigkeiten - sei es im Rahmen der Rezeption des Sachverhalts, sei es im Rahmen der handschriftlichen Darlegung des gefundenen Ergebnisses - behindern. Es treffe zwar zu, dass es auch zu den zu prüfenden Fähigkeiten eines Juristen gehört, den Sachverhalt in angemessener Zeit zu erfassen und zu durchdringen. Diese Fähigkeit werde durch die Legasthenie jedoch nicht behindert. Der VGH folgt mit dieser Entscheidung der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Schleswig in seinem Beschluss Das OVG hatte im Falle einer Ärztlichen Vorprüfung eine Verlängerung der Bearbeitungszeit von 30 Minuten je Prüfungstag gewährt und zur Begründung u. a. Folgendes ausgeführt:

"Dauerleiden, die als persönlichkeitsbedingte Eigenschaften die Leistungsfähigkeit eines Prüflings prägen, dürften grundsätzlich zwar keine Arbeitszeitverlängerung im Wege des Nachteilsausgleichs rechtfertigen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.12.1985 - 7 B 210.85 -, DÖVDÖV 1986, 477). Etwas anderes gilt jedoch für solche Behinderungen des Prüflings, die nicht die in der Prüfung zu ermittelnde wissenschaftliche Leistungsfähigkeit, sondern lediglich den Nachweis derselben beeinträchtigen, in derartigen Fällen verlangen der Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 I GG) und das Grundrecht der freien Berufswahl (Art. 12 I GG) bei der Ärztlichen Vorprüfung ausnahmsweise einen Nachteilsausgleich durch Einräumung besonderer Prüfungsbedingungen (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.08.1977 - VII C 50.76 -, Buchholz 421.0, Prüfungswesen, Nr. 85; vgl. auch OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 16.01.1980 - 2 A 49/79 -, DVBl. 1981, 591, und Niehues, Prüfungsrecht, 3. Aufl., Rn. 156). Auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Ag. gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die legastheniebedingte langsamere Lesegeschwindigkeit des Ast. seine Fähigkeit beeinträchtigen könnte, die Aufgaben der Ärztlichen Vorprüfung - deren Inhalt ergibt sich aus § 22 I ÄAppO - wissenschaftlich zu durchdringen. Vielmehr benötigt der Ast. nach seinem unbestrittenen erstinstanzlichen Vorbringen wegen seiner Legasthenie längere Zeit als die Mitprüflinge nur insoweit, als es darum geht, die Aussagen der Prüfungsfragen in ihrer "Semantik" nachzuvollziehen. Hierbei handelt es sich um einen Umstand, der außerhalb der in der Ärztlichen Vorprüfung zu ermittelnden wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit liegt (so im Ergebnis auch VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 19.09.2000 - 9 S 1607/00)."

Ihr Ansprechpartner: Rechtsanwalt Joachim Krumb, Fachanwalt für Verwaltungsrecht