Der Bescheid der höheren Verwaltungsbehörde wegen Verletzung von Rechtsvorschriften in einem Bebauungsplan ist ohne Benennung konkreter Rechtsvorschriften unwirksam

01.01.2012

Der Bescheid der höheren Verwaltungsbehörde wegen Verletzung von Rechtsvorschriften in einem Bebauungsplan ist ohne Benennung konkreter Rechtsvorschriften unwirksam

Ist der höheren Verwaltungsbehörde ein Bebauungsplan angezeigt worden, so hat sie innerhalb von drei Monaten eventuelle Verletzungen von Rechtsvorschriften geltend zu machen (§ 11 Abs. 3 BauGB a. F.). Ein entsprechender Bescheid ist jedoch unwirksam, wenn die Behörde in dem Bescheid lediglich Empfehlungen ausgesprochen und keine konkreten Rechtsvorschriften benannt hat. Dies hat der Verwaltungsgerichtshof München mit Urteil vom 03.03.2006 (25 B 00.1493) entschieden.

Der Rechtsstreit betraf die Geltendmachung von Rechtsverstößen durch die höhere Verwaltungsbehörde bei der Anzeige eines Bebauungsplans nach altem Recht (§ 11 Abs. 3 BauGB i.d.F. der Bekanntmachung vom 8.12.1986). Die klagende Gemeinde hatte ihren Bebauungsplan "Borngasse" nach mehreren Änderungen des Entwurfs in der Entwurfsfassung vom 9. Mai 1995 mit Gemeinderatsbeschluss vom 17. Februar 1998 als Satzung beschlossen und durch ihren ersten Bürgermeister am 20. Mai 1998 ausgefertigt. Der Bebauungsplan setzt auf einer Fläche von 1,26 ha ein Dorfgebiet fest und sieht dort neben einzelnen bereits bestehenden Gebäuden einige eingeschossige neue Wohnhäuser vor. Das Baugebiet wird unter anderem durch eine ca. 95 m lange Stichstraße erschlossen. Die dort geplanten 10 Wohngebäude wurden zwischenzeitlich plangemäß errichtet.

Mit Anzeige vom 15. Juni 1998, eingegangen am 17. Juni 1998, legte die Klägerin dem Landratsamt Aschaffenburg den Bebauungsplan vor. Dieses erließ daraufhin folgenden, am 17. September 1998 zugestellten Bescheid vom 16. September 1998:

"I. Nach § 11 Abs. 3 BauGB wird eine Verletzung von Rechtsvorschriften mit folgender Maßgabe nicht geltend gemacht: Anlage eines Wendehammers in der Erschließungsstraße "B" aus verkehrstechnischen Gründen. II. Der Bebauungsplan darf nicht nach § 12 BauGB a. F. in Kraft gesetzt werden."

Zur Begründung wurde ausgeführt, den von den Trägern öffentlicher Belange gestellten Forderungen sei weitgehend entsprochen worden. Eine Verletzung von Rechtsvorschriften sei nicht geltend zu machen gewesen. Zur Maßgabe sei festzustellen, der in einer früheren Entwurfsfassung vorgesehene Wendehammer in der Erschließungsstraße "B" sei ohne fachliche Begründung wieder herausgenommen worden. Gemäß EAE 85 Nr. 5.2.1.9 sei wenigstens eine Wendeanlage Typ 1 erforderlich. Nach Anerkennung der Maßgabe und entsprechender Änderung und Wiederholung der notwendigen Verfahrensabschnitte sei der Bebauungsplan mit Begründung erneut dem Landratsamt vorzulegen.

Die hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht ab. Die Maßgabe stelle eine auflösende Bedingung dar, die als milderes Mittel unbedenklich sei. Der Bescheid enthalte auch eine ausreichende Begründung. Wenn auch Rechtsvorschriften nicht genannt wurden, könne die Behörde nach Art. 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BayVwVfG bis zum Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens die erforderliche Begründung nachträglich geben und erst recht nachträglich ergänzen. Im gerichtlichen Verfahren habe der Beklagte die Rechtsvorschriften zitiert, welche verletzt seien (§ 1 Abs. 5 Nrn. 1 und 8 BauGB a. F.). Auf diese Vorschriften habe sich der Beklagte zu Recht berufen. Außerdem sei Art. 9 Abs. 1 Satz 2 BayStrWG einschlägig, wonach die Träger der Straßenbaulast die Straßen in einem dem gewöhnlichen Verkehrsbedürfnis und den Erfordernissen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung genügenden Zustand zu bauen und zu unterhalten haben. Die planerische Gestaltungsfreiheit der Klägerin finde hier ihre Grenze, nach Auffassung der Kammer sei die Planung rechtlich nicht mehr vertretbar. Die vom Beklagten herangezogenen Richtlinien definierten die rechtlichen Anforderungen im Hin blick auf die Sicherheit des Verkehrs. Die von der Klägerin herangezogenen Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts seien nicht in jeder Hinsicht vergleichbar, auch habe die Motorisierung weiter zugenommen. Jedenfalls sei ein Abwägungsfehler gegeben, weil wichtige Belange, welche für den Wegfall einer Wendemöglichkeit sprechen könnten, nicht zu erkennen seien. Der Klägerin sei es offensichtlich nur um das private Interesse, keine oder nur geringe Flächen abtreten zu müssen, gegangen. Die Kammer sehe sich nicht in der Lage, eine Planung rechtlich abzusegnen, welche nicht nur kurzsichtig erscheine, sondern auch Risiken in sich berge.

Auf die hiergegen erhobene Berufung hob nun der VGH die erstinstanzliche Entscheidung mit folgenden Erwägungen auf:

Die Behörde stütze den Bescheid auf den im vorliegenden Fall noch anwendbaren § 11 Abs. 3 BauGB a. F. Danach hatte die höhere Verwaltungsbehörde in Bayern innerhalb von drei Monaten nach Eingang der Anzeige des Bebauungsplans die Verletzung von Rechtsvorschriften geltend zu machen. Der Bebauungsplan durfte nur in Kraft gesetzt werden, wenn die höhere Verwaltungsbehörde die Verletzung von Rechtsvorschriften nicht innerhalb dieser Frist geltend gemacht hatte. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien hier aber nicht gegeben, weil in dem Bescheid keine bestimmten Rechtsvorschriften benannt wurden, gegen die der Bebauungsplan verstoße.

Der Bescheid nenne keine Rechtsvorschriften, sondern nur die Empfehlungen für die Anlage von Erschließungsstraßen (Ausgabe 1985), EAE 85, der Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswesen, von denen er einen dreiseitigen Auszug als Anlage enthalte. Bei diesen Empfehlungen, die seit Juni 1995 in einer aktualisierten Ausgabe vorliegen (EAE 85/95), handele es sich um ein fachliches Regelwerk, das auf Initiative des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau in Abstimmung mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden erarbeitet wurde und eine verbesserte Verknüpfung von verkehrlichen und städtebaulichen Gesichtspunkten bei der Anlage von Erschließungsstraßen ermöglichen solle. Die Empfehlungen verstünden sich vorrangig als konzeptionelle Entscheidungshilfen für die Vor- und Entwurfsplanung der beauftragten Architekten; bei ihrer Anwendung sei nach ihrem eigenen Verständnis wegen der vielfältigen Anforderungen an Straßenverkehrsanlagen innerhalb bebauter Gebiete und der schwer regelbaren Besonderheiten des Einzelfalles kein starrer Maßstab anzulegen. Schon die Gewichtung der zwei Hauptfunktionen des Straßenraums sei im Einzelfall unterschiedlich und führe oft zu Zielkonflikten, die im Planungs- und Entwurfsprozess gelöst werden müssten. Das zeige, dass die Empfehlungen fachlich nicht zwingend seien und damit auch nicht normkonkretisierend für gesetzliche Gebote wie z.B. Art. 9 Abs. 1 Satz 2 BayStrWG oder § 1 Abs. 5 Satz 2 Nr. 8 BauGB a. F. sein könnten. Sie gingen vielmehr als eine Entscheidungshilfe in den planerischen Gestaltungsprozess mit ein, wenn die Gemeinde bei der Aufstellung des Bauleitplans gemäß § 1 Abs. 6 BauGB a. F. alle betroffenen öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen habe.

Mit der Maßgabe "Anlage eines Wendehammers - aus verkehrstechnischen Gründen" und der Verweisung auf die EAE 1985 habe das Landratsamt somit weder direkt noch indirekt einen eindeutig identifizierbaren Rechtsverstoß geltend gemacht. Die gesetzliche Grundlage seiner Forderung bleibe vielmehr offen. § 11 Abs. 3 Satz 1 BauGB a. F. verlange aber die konkrete Benennung einer bestimmten verletzten Rechtsvorschrift. Der Senat sei ferner der Auffassung, dass die Benennung der verletzten Rechtsvorschrift nach Ablauf der Dreimonatsfrist auch nicht nachgeholt werden könne. Nach dem Wortlaut des § 11 Abs. 3 Satz 1 BauGB a. F. stelle die Geltendmachung der Verletzung von Rechtsvorschriften den eigentlichen Kern der Behördenentscheidung dar. Im Gegensatz zur Versagung einer Genehmigung oder zur Untersagung des Normerlasses werde von der Behörde damit eine formalisierte Darlegung und Beschränkung auf eine bestimmte Norm gefordert; nicht genannte Normen könnten daher die Gemeinde an der Fortführung ihres Normerlassverfahrens nicht hindern. Zugunsten der Gemeinde solle in kurzer Frist der Streitstoff auf eine bestimmte Normverletzung reduziert werden. Damit sei nach Auffassung des VGH durch die spezielle Regelung des § 11 Abs. 3 Satz 1 BauGB a. F. auch die spätere Benennung von Rechtsvorschriften durch eine nachträglich gegebene Begründung gemäß Art. 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BayVwVfG ausgeschlossen. Es handele sich nämlich bei der Benennung der Rechtsvorschrift nicht um eine Begründung des Verwaltungsakts im Sinne von Art. 39 Abs. 1 BayVwVfG, sondern um seinen wesentlichen Entscheidungsinhalt. Die vom Beklagten im gerichtlichen Verfahren nach Ablauf der Dreimonatsfrist benannten möglichen Rechtsverstöße könnten den angefochtenen Verwaltungsakt also nicht mehr wirksam ergänzen. Damit könne auch die Frage offen bleiben, ob der unter den von Beklagtenseite vorgebrachten Rechtsverstößen einzig näher in Betracht zu ziehende gegen das Abwägungsgebot tatsächlich vorliege. Gegen ein fehlerhaftes Abwägungsergebnis bei Verzicht auf eine Wendeanlage nach EAE 85 Nr. 5.2.1.9 könne im Übrigen neben den gegenläufigen öffentlichen und privaten Belangen des sparsamen Umgangs mit Grund und Boden immerhin die Fallkonstellation sprechen, die der von Klägerseite angeführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (vom 27.4.1990 in NVwZ 1991, 76) zu Grunde liege.
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