Rechtsweg bei baurechtlichen Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern einer Wohnungseigentümergemeinschaft

01.01.2012

Rechtsweg bei baurechtlichen Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern einer Wohnungseigentümergemeinschaft

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren mit Beschluss vom 07.02.2006 (1 BvR 2304/05) zum Rechtsweg bei baurechtlichen Streitigkeiten zwischen Wohnungseigentümern Stellung genommen. Die Verfassungsbeschwerde betraf Fragen der Gewährleistung des Rechtsschutzes durch die Zivilgerichte als Wohnungseigentumsgerichte und durch die Verwaltungsgerichte bei baurechtlichen Auseinandersetzungen unter Wohnungseigentümern.

Die Beschwerdeführerin ist an einer Wohnungseigentumsanlage beteiligt. Zu ihrem Wohnungseigentum gehört das Sondereigentum an einer Wohnung in einem auf dem Grundstück errichteten Mehrfamilienhaus. Ein anderer Miteigentümer beabsichtigte - entsprechend dem der Wohnungseigentumsgemeinschaft zugrunde liegenden Teilungsvertrag - auf dem gemeinschaftlichen Grundstück ein weiteres Gebäude zu errichten, das sein Sondereigentum bilden sollte. Hierfür wurde ihm zunächst ein Bauvorbescheid erteilt, der von der Beschwerdeführerin vor dem Verwaltungsgericht und dem Oberverwaltungsgericht erfolglos angegriffen wurde.

Da die übrigen Miteigentümer, darunter die Beschwerdeführerin, die Zustimmung zur Errichtung des Sondereigentums in Form des geplanten Einfamilienhauses verweigerten, nahm der Bauherr sie im Verfahren nach den §§ 43 ff. des Gesetzes über das Wohnungseigentum und das Dauerwohnrecht (WEG) gerichtlich auf Zustimmung in Anspruch. Das Amtsgericht gab dem Antrag mit der Einschränkung "vorbehaltlich der endgültigen/ bestandskräftigen Baugenehmigung ..." statt. Die gegen die Entscheidung des Amtsgerichts gerichtete sofortige Beschwerde wurde vom Landgericht, die darauf erhobene sofortige weitere Beschwerde vom Oberlandesgericht zurückgewiesen. Das Oberlandesgericht führte zur Begründung seines Beschlusses unter anderem an, die Beschwerdeführerin und die anderen Antragsgegner dürften ihre Zustimmung schon deshalb nicht verweigern, weil das Amtsgericht sie zur Zustimmung nur vorbehaltlich einer rechtskräftigen öffentlichrechtlichen Baugenehmigung verurteilt habe. Da sie insofern ihre Rechte wahrnehmen könnten, habe das Wohnungseigentumsgericht seine Prüfung auf die Frage des Wohnungseigentumsrechts zu beschränken.

In der Folgezeit wurde dem Bauherrn eine Baugenehmigung erteilt. Die hiergegen gerichtete Anfechtungsklage der Beschwerdeführerin wurde vom Verwaltungsgericht abgewiesen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wurde vom Oberverwaltungsgericht abgelehnt.

Das Oberverwaltungsgericht führte aus, das Verwaltungsgericht habe zu Recht sein Urteil darauf gestützt, dass der Beschwerdeführerin und ihren Streitgenossen für eine öffentlichrechtliche Nachbarklage die Klagebefugnis gemäß § 42 Abs. 2 VwGO fehle. Für Auseinandersetzungen, in denen sich Wohnungseigentümer gegen die Art der Nutzung einer im Sondereigentum eines anderen Miteigentümers derselben Eigentümergemeinschaft stehenden Wohnung wendeten, seien die so genannten Wohnungseigentumsgerichte nach § 43 WEG zuständig. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts stehe im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach das Sondereigentum nach dem Wohnungseigentumsgesetz öffentlichrechtliche Nachbarschutzansprüche innerhalb der Gemeinschaft der Miteigentümer desselben Grundstücks ausschließe. Den Prüfungsmaßstab bildeten dabei, wie sich aus § 15 Abs. 3 WEG ergebe, unter anderem die individuell getroffenen Vereinbarungen und Beschlüsse der Wohnungseigentümer. Soweit aus diesen Regelungen nichts anderes hervorgehe, habe das Wohnungseigentumsgericht ergänzend die Vorschriften des öffentlichen Baurechts heranzuziehen. Eine Prüfung, ob das Oberlandesgericht seinen Prüfungsverpflichtungen aus dem Wohnungseigentums recht nicht gerecht geworden sei, stehe dem Oberverwaltungsgericht nicht zu. Hierauf komme es auch nicht an; denn die Beurteilung, welche Gerichte zur Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten angerufen werden könnten, sei nach abstrakten Merkmalen vorzunehmen.

Gegen den Nichtzulassungsbeschluss legte die Beschwerdeführerin Anhörungsrüge ein, die vom Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen wurde.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung der Art. 19 Abs. 4, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG durch den Nichtzulassungsbeschluss des Oberverwaltungsgerichts in dem Verfahren gegen die Erteilung der Baugenehmigung.

Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Die Annahmevoraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nach seiner Ansicht nicht vor; denn die Verfassungsbeschwerde, der grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung nicht zukomme, habe keine Aussicht auf Erfolg. Die erhobenen Rügen würden im Ergebnis nicht durchgreifen.

Eine Verletzung der aus Art. 19 Abs. 4 und aus Art. 103 Abs. 1 GG abgeleiteten Verfassungsprinzipien komme zwar in Betracht, wenn ein Rechtsschutz Suchender aufgrund gegenläufiger Rechtsprechung verschiedener Gerichtsbarkeiten schlechthin keine Möglichkeit habe, mit seinen Einwendungen vor Gericht gehört zu werden. Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG sichere nicht nur formal die Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern gewährleiste auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Der Bürger habe einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle. Der Zugang zum Gericht dürfe nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Art. 103 Abs. 1 GG gebiete, dass das einfache Recht in seiner Anwendung im Einzelfall ein Ausmaß an Gehör eröffnen muss, das sachangemessen ist, um dem Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht zu werden. Sowohl die Rechtsweggarantie als auch das rechtliche Gehör dienten jeweils dem gleichen Ziel, nämlich der Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes. Das Gebot der Effektivität gelte danach nicht nur für die Eröffnung des Zugangs zum Gericht, sondern auch für das Recht, im Verfahren gehört zu werden.

Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben genüge eine Gerichtsentscheidung nicht, wenn sie die Zuständigkeit der angerufenen Gerichtsbarkeit verneine und auf die Zuständigkeit einer anderen Gerichtsbarkeit verweise, sich dabei aber in Widerspruch zur einhelligen Meinung in der Rechtsprechung der anderen Gerichtsbarkeit und in der Literatur setze. In einem solchen Fall könne nach Erschöpfung des Rechtsweges die Entscheidungen der zu Unrecht verweisenden Gerichtsbarkeit unter Berufung auf Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG erfolgreich mit einer Verfassungsbeschwerde angegriffen werden, ohne dass die andere Gerichtsbarkeit angerufen werden müsse.

Dies vorausgeschickt, könne vorliegend der Nichtzulassungsbeschluss des Oberverwaltungsgerichts nicht erfolgreich mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden. Er entspriche der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der veröffentlichten Rechtsprechung der Fachgerichte und der Literatur aus dem Gebiet des Wohnungseigentumsrechts. Diese Rechtsprechung sei von der Verfassungsbeschwerde auch nicht substantiiert in Frage gestellt worden.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts schließt Sondereigentum nach dem Wohnungseigentumsgesetz öffentlichrechtliche Nachbarschutzansprüche innerhalb der Gemeinschaft der Miteigentümer desselben Grundstückes aus. Dem Wohnungseigentumsgesetz ist danach eine schutzfähige Rechtsposition des einzelnen Wohnungseigentümers auch gegenüber dem gemeinschaftlichen Eigentum zwar nicht fremd, es sieht jedoch zur Erlangung dieses Schutzes ein besonderes Verfahren vor: Abwehrrechte gegen ein Vorhaben anderer Miteigentümer sind ausschließlich im Wege einer gegen diese gerichteten Klage vor den Wohnungseigentumsgerichten geltend zu machen (§ 43 Abs. 1 Nr. 1 WEG). Es fehlt deshalb den Miteigentümern für eine Anfechtungsklage gegen die einem anderen Miteigentümer erteilte Baugenehmigung an der Klagebefugnis gemäß § 42 Abs. 2 VwGO. Wann und in welchem Umfang materielle Abwehrrechte gegen baurechtlich unzulässige Baumaßnahmen auf dem gemeinschaftlichen Grundstück bestehen, ergibt sich aus § 15 Abs. 3 WEG. Nach dieser Vorschrift kann jeder Wohnungseigentümer einen Gebrauch der im Sondereigentum stehenden Gebäudeteile und des gemeinschaftlichen Eigentums verlangen, der dem Gesetz, den Vereinbarungen und Beschlüssen und, soweit sich die Regelung hieraus nicht ergibt, dem Interesse der Gesamtheit der Wohnungseigentümer nach billigem Ermessen entspricht. Die Vorschrift setzt voraus, dass die Wohnungseigentümer den Gebrauch des Sondereigentums und des gemeinschaftlichen Eigentums durch Vereinbarung regeln können (§ 15 Abs. 1 WEG). Damit geht § 15 Abs. 3 WEG vom Vorrang des privaten Rechts vor dem disponiblen Gesetzesrecht aus. Im Rahmen der gesetzlichen Regelungen bestimmen sich die gegenseitigen Rechte und Pflichten aus dem Sondereigentum in erster Linie nach den getroffenen Vereinbarungen und Beschlüssen. Soweit keine speziellen vertraglichen Regelungen bestehen, gelten ergänzend auch die Normen des öffentlichen Baurechts, und zwar unabhängig davon, ob sie ihrerseits unmittelbar nachbarschützend sind oder nicht. Aber auch dann besteht kein selbständiger öffentlichrechtlicher Abwehranspruch; vielmehr beruht die Anwendbarkeit des öffentlichen Rechts auch in diesem Fall auf der privatrechtlichen Vorschrift des § 15 Abs. 3 WEG.

Eine im Verhältnis zwischen Wohnungseigentümern erhobene Baunachbarklage wird danach von den Verwaltungsgerichten in ständiger Rechtsprechung wegen fehlender Klagebefugnis abgewiesen; die Wohnungseigentümer sind insoweit auf den Zivilrechtsweg verwiesen (diese Rechtsauffassung wird auch von den Zivilgerichten geteilt).

Die in der Angelegenheit der Beschwerdeführerin ergangene Entscheidung des Oberlandesgerichts weiche allerdings von der ständigen Rechtsprechung der Zivilgerichte ab und verweist zumindest indirekt auf den verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz. Die Beschwerdeführerin habe jedoch nicht substantiiert dargelegt, dass es sich um mehr als eine einzelne Entscheidung handelt und dass diese - auch im Gefolge weiterer ähnlicher Entscheidungen des Oberlandesgerichts - die ständige Rechtsprechung der Fachgerichte generell in Frage stelle. Es fehle bereits an einer zweiten (oberlandesgerichtlichen) Entscheidung, die diese Annahme stützen könnte. Aus dem von der Beschwerdeführerin zitierten Beschluss des gleichen Gerichts vom 25. Februar 2002 lasse sich nichts dafür herleiten, wie das Oberlandesgericht das Verhältnis von verwaltungsund wohnungseigentumsgerichtlichem Rechtsschutz beurteile, wenn dort lediglich ausgeführt wird, das Risiko, sein Sondereigentum aus öffentlichrechtlichen Gründen nicht errichten zu können, wie es der Teilungserklärung entspreche, oder aber wegen der Teilungserklärung nicht so bauen zu können, wie es öffentlichrechtlich gerade noch genehmigungsfähig wäre, liege allein beim Antragsteller.

Die von der Beschwerdeführerin befassten Verwaltungsgerichte waren unter diesen Umständen nicht gehalten, den allgemein vertretenen Ausschluss der Rechtsverfolgung von wohnungseigentumsrechtlichen Abwehransprüchen vor den Verwaltungsgerichten mit Rücksicht auf eine geänderte Rechtsprechung der Zivilgerichte einer Prüfung zu unterziehen, um einer drohenden Rechtsschutzlücke entgegenzuwirken. Etwas anderes habe lediglich dann zu gelten, wenn sich feststellen ließe, dass die geänderte Rechtsauffassung in gefestigter Rechtsprechung von den Zivilgerichten vertreten wird. Im vorliegenden Fall fehlt indessen schon jeder Anhaltspunkt dafür, dass das Oberlandesgericht bewusst von der ständigen Rechtsprechung der Zivilgerichte hatte abweichen wollen. Gegen eine bewusste Abweichung von der Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte oder des Bundesgerichtshofs spricht auch, dass eine in diesem Fall gebotene Vorlage an den Bundesgerichtshof gemäß § 28 Abs. 2 Satz 1 FGG nicht erwogen wurde.

Ihr Ansprechpartner: Rechtsanwalt Jochen Zweschper, Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht