Hotel kann neben einem Störfallbetrieb zulässig sein

15.10.2021

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat die Zulässigkeit eines Frühstückshotels innerhalb des Sicherheitsabstandes eines Störfallbetriebes bestätigt. Demgegenüber hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht nochmals klargestellt, dass Verbrauchermärkte in der unmittelbaren Nachbarschaft derartiger Betriebe nicht genehmigungsfähig sind.

Problemstellung

Seit den grundlegenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 15.09.2011 (C-53/10) und nachfolgend des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 20.12.2012 (4 C 11/11), wonach auch bei der Erteilung von Baugenehmigungen in der Umgebung von sog. Störfallbetrieben die nach der Seveso-III-Richtlinie maßgeblichen Sicherheitsabstände einzuhalten sind, kommt es immer wieder zu Rechtsstreitigkeiten darüber, für welche Bauvorhaben diese Abstandsvorschriften gelten. Hierzu regelt § 50 des Bundesimmissionsschutzgesetzes (BImSchG), welche Nutzungen und Gebiete im Hinblick auf eventuelle Störfälle besonders schutzbedürftig sind. Als schutzbedürftig und damit von den Abstandsvorschriften erfasst sind – vereinfacht gesagt – neben Wohngebieten auch bestimmte öffentlich genutzte Gebiete, insbesondere auch öffentlich genutzte Gebäude.In den Genehmigungsverfahren und in nachfolgenden Rechtsstreitigkeiten vor Gericht geht es vor diesem Hintergrund vermehrt um die Frage, bei welchen Vorhaben es sich um öffentlich genutzte Gebäude im vorgenannten Sinne handelt. Von dieser Einstufung hängt maßgeblich ab, ob das – in der Regel gewerbliche – Vorhaben einen bestimmten Abstand zum benachbarten Störfallbetrieb einhalten muss oder nicht. Davon wiederum hängt zentral ab, ob für das jeweilige Vorhaben die benötigte Genehmigung erteilt wird oder nicht. In zwei Entscheidungen der jüngeren Zeit haben die Gerichte den Begriff des öffentlich genutzten Gebäudes näher spezifiziert.

VGH Kassel: Frühstückshotel innerhalb des Sicherheitsabstandes zulässig

Im Herbst des vergangenen Jahres hatte sich zunächst der Verwaltungsgerichtshof Kassel (VGH Kassel) mit der Frage zu beschäftigen, ob ein „Frühstückshotel“ innerhalb des Sicherheitsabstandes eines Störfallbetriebes genehmigt werden kann (Beschluss vom 22.10.2020 – 4 B 1371/20). Beantragt war die Genehmigung eines Hotels mit 57 Zimmern, 94 Betten und einem Frühstücksservice ausschließlich für die Hotelgäste. Der VGH Kassel kommt – ebenso wie das Verwaltungsgericht Darmstadt in erster Instanz – zu dem Ergebnis, dass es sich bei einem derartigen Hotel nicht um ein öffentlich genutztes Gebäude im Sinne des Art. 13 der Seveso-III-Richtlinie handelt und folglich zu dem benachbarten Störfallbetrieb kein Sicherheitsabstand einzuhalten ist.

Entscheidend: Verhaltenssteuerung der Nutzerinnen und Nutzer möglich?

Der VGH Kassel definiert den Begriff des öffentlich genutzten Gebäudes als ein Gebäude, zu dem die Öffentlichkeit Zugang hat. Der Zweck des Betretens sei dabei bedeutungslos. Derartige Gebäude und insbesondere deren Nutzer seien schutzwürdig, weil und wenn dort ein allgemeiner Publikumsverkehr stattfindet. Dieser zeichne sich dadurch aus, dass das Gebäude von einem unbegrenzten und wechselnden Personenkreis einschränkungslos genutzt wird bzw. werden kann. Dabei kommt es entscheidend darauf an, ob es möglich ist, das Verhalten der Besucher bzw. Nutzer bei Eintreten eines Störfalles effektiv zu steuern. Eine derartige Verhaltenssteuerung sei bei einem unbegrenzten und wechselnden Personenkreis nicht möglich.

Im oben beschriebenen Fall kommt der VGH Kassel zu dem (doch etwas überraschenden) Ergebnis, dass eine Verhaltenssteuerung in diesem Sinne möglich ist. Das Hotel stünde gerade nicht einem unbegrenzten und wechselnden Personenkreis offen, der vom Betreiber weder eingegrenzt noch gesteuert werden könne. Vielmehr sei das Betreten des Gebäudes von dem vorherigen Abschluss eines Beherbergungsvertrages abhängig. Hierbei könne jeder Nutzer des Hotels auf Verhaltensregeln hingewiesen und für Störfallrisiken sensibilisiert werden. Dies unterscheide den Hotelbetrieb von anderen Betrieben, bei dem eine derartige Zugangskontrolle und Unterweisung faktisch nicht umsetzbar sei.

OVG Lüneburg: Verbrauchermärkte können innerhalb des Sicherheitsabstandes nicht genehmigt werden

Ebenfalls mit dem Begriff des öffentlich genutzten Gebäudes befasst sich eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Lüneburg vom April dieses Jahres (Beschluss vom 14.04.2021 – 1 ME 140/20). Im dortigen Verfahren war zu entscheiden, ob ein großflächiger SB-Verbrauchermarkt als öffentlich genutztes Gebäude einzustufen ist. Beantragt war die Genehmigung eines Verbrauchermarkts mit Back-Shop und Einstellplätzen in unmittelbarer Nähe zu einem Betrieb, in dem Spezialpapiere und Verpackungen hergestellt werden und der der Störfall-Verordnung (12. BImSchV) unterliegt.

Angelehnt an die angesprochene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.12.2012 stuft das OVG den Verbrauchermarkt als öffentlich genutztes Gebäude ein. Das Gericht schließt sich der oben dargestellten Begriffsdefinition an und stellt ebenfalls maßgeblich darauf ab, ob die Nutzer auf einen Alarmierungsfall vorbereitet sind bzw. werden können. Dabei lässt das Gericht ausdrücklich offen, ob es für diese Einschätzung auf eine bestimmte Kundenfrequenz ankommt. Hintergrund für diese Fragestellung ist die in einigen Bauordnungen der Länder aufzufindende Regelung, wonach es darauf ankommen soll, ob die Kundenfrequenz oberhalb oder unterhalb von 100 Besucherinnen und Besuchern liegt (hier: § 62 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 der Niedersächsischen Bauordnung). Das Gericht deutet insofern allerdings gewisse Bedenken an (in diese Richtung auch VGH Kassel, Urteil vom 26.03.2015 – 4 C 1566/12.N).

Rechtslage weiterhin nicht eindeutig

Der VGH Kassel weicht mit seiner Einschätzung ausdrücklich von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim ab. Dieser hatte in einem Beschluss vom 29.04.2015 (3 S 2101/14) für den Betrieb eines Fitnesscenters entschieden, dass dieses trotz der mitgliedschaftlichen Organisation der Nutzung als öffentlich genutztes Gebäude einzustufen sei. Bereits dies zeigt, dass weiterhin nicht eindeutig feststeht, wann ein öffentlich genutztes Gebäude im Sinne des § 50 BImSchG bzw. der Seveso-III-Richtlinie vorliegt und deshalb eine abschließende Klärung durch das Bundesverwaltungsgericht dringend erforderlich ist.