Keine zeitlich unbegrenzte Erhebung von Erschließungsbeiträgen

15.02.2022

Das Kommunalabgabengesetz Rheinland-Pfalz (KAG RP) ist teilweise verfassungswidrig, da es gegen das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) verstößt.

Der Kläger des Ausgangsverfahrens wendet sich gegen die Zahlung von Erschließungsbeiträgen für die Herstellung eines rund 200 Meter langen Teilstücks einer Erschließungsstraße. Die Straße wurde in den Jahren 1985/1986 vierspurig mit einer Länge von knapp 200 Metern gebaut. 1999 wurde die zunächst vorgesehene vierspurige Fortführung der Straße endgültig aufgegeben und stattdessen 2003/2004 lediglich zweispurig weitergebaut. Erst im Jahr 2007 widmete die Stadt die Straße in voller Länge als Gemeindestraße und setzte daraufhin Erschließungsbeiträge fest. Dagegen klagte der Eigentümer. Er blieb jedoch vor dem Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht überwiegend erfolglos. Diese stellten sich auf den Standpunkt, die Beitragspflicht (auch für den 1985/1986 gebauten Abschnitt) sei erst mit Widmung der Straße im Jahr 2007 entstanden, die vierjährige Festsetzungsfrist mithin zum Zeitpunkt der Beitragserhebung noch nicht abgelaufen gewesen.

Streitfrage: Wann entsteht die Beitragspflicht?

Wesentliche Streitfrage war, ob die Beitragspflicht für die Erschließungskosten von Grundstücken erst dann entsteht, wenn alle tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, was im Einzelfall zu einer zeitlich unbegrenzten Erhebungsmöglichkeit für Erschließungsbeiträge führen kann. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat in diesem Kontext dem Bundesverfassungsgericht die Frage zu Klärung vorgelegt, ob das KAG RP mit der Möglichkeit zur unbefristeten Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage verfassungskonform ist.

Rechtliche Ausgangslage: Keine bundesgesetzliche Regelung der zeitlichen Grenzen der Beitragserhebung

Das Recht der Erschließungsbeiträge war ursprünglich bundesrechtlich geregelt. Die Gesetzgebungskompetenz für dieses Rechtsgebiet ist mittlerweile auf die Bundesländer übergegangen. Das Land Rheinland-Pfalz hat die bundesrechtlichen Regelungen zu Erschließungsbeiträgen bislang nicht durch Landesrecht ersetzt, weshalb sich die Erhebung von Erschließungsbeiträgen grundsätzlich noch nach den bundesrechtlichen Vorschriften der §§ 127 ff. BauGB richtet.

Tatsächliche Voraussetzung für die Erhebung von Erschließungsbeiträge ist die sogenannte „erstmalige endgültige (technische) Herstellung“ der Erschließungsanlage (§ 133 Abs. 2 S. 1 BauGB). Dies ist der Fall, wenn die Straße erstmals alle nach der kommunalen Erschließungsbeitragssatzung erforderlichen baulichen Herstellungsmerkmale aufweist (z.B. Breite, Tragschichten, Beleuchtung etc.). Soweit die jeweilige gemeindliche Satzung den Erwerb der für die Erschließungsanlage benötigten Grundstücke als Merkmal der endgültigen Herstellung vorsieht, entsteht die Beitragspflicht erst mit dem Eigentumsübergang auf die Gemeinde. Erst durch den sog. „Erschließungsvorteil“ wird das Grundstück schließlich für den Anlieger baulich nutzbar.

In rechtlicher Hinsicht sind eine rechtswirksame Erschließungsbeitragssatzung sowie ein wirksamer Bebauungsplan erforderlich. Voraussetzung ist zudem, dass die Anbaustraße nach Maßgabe der einschlägigen landesrechtlichen Vorgaben als öffentliche Straße gewidmet ist. Denn erst dadurch kann die Allgemeinheit die Erschließungsanlage nutzen.

Regelungen zu den zeitlichen Grenzen der Erhebung von Erschließungsbeiträgen enthält das Baugesetzbuch nicht. Die Festsetzungsfrist richtet sich deshalb nach Landesrecht. Das KAG RP sieht keine ausdrückliche Regelung für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen vor, sondern verweist auf die allgemeinen Regelungen der Abgabenordnung (AO). Demnach beginnt die vierjährige Festsetzungsfrist erst mit Ablauf des Jahres, in dem alle − insbesondere auch die rechtlichen − Voraussetzungen für das Entstehen der Erschließungsbeitragspflicht erfüllt sind. Allein die technische Fertigstellung der Erschließungsanlage oder ihre Benutzbarkeit führt nach dem KAG RP nicht dazu, dass die Festsetzungsfrist anläuft. Wartet eine Gemeinde, wie im vorliegenden Rechtsstreit, lange ab, die ausgebaute Straße öffentlich zu widmen, kann sie nach dem Gesetzeswortlaut des KAG RP auch dann noch Erschließungsbeiträge erheben, wenn die technische Fertigstellung der Straße eventuell schon Jahrzehnte zurückliegt.

Entscheidung des BVerfG: Zeitlich unbegrenzte Erhebung von Erschließungsbeiträgen ist verfassungswidrig

Diese zeitliche unbegrenzte Erhebung von Erschließungsbeiträgen, wie sie das KAG RP vorsieht, ist nicht verfassungskonform, sondern verstößt gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Die Regelung in Rheinland-Pfalz wirkt sich in verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbarer Weise einseitig zu Lasten der Beitragspflichtigen aus. Denn sie macht den Beginn der Festsetzungsfrist davon abhängig, dass sämtliche (auch rechtliche) Voraussetzungen vorliegen, ohne zu berücksichtigen, ob die Vorteilslage in Form der endgültigen Herstellung der Erschließungsanlage bereits eingetreten ist.

Die Bürgerinnen und Bürger sollen aber – so das Verfassungsgericht in seinem Beschluss vom 03.11.2021 (Az.: 1 BvL 1/19) - mögliche staatliche Eingriffe voraussehen und sich dementsprechend einrichten können.

Folgen der Entscheidung: Neuregelung erforderlich!

Das BVerfG hat dem Landesgesetzgeber aufgegeben, bis Ende Juli 2022 eine verfassungsgemäße Regelung zu verabschieden. Ob der angegriffene Erschließungskostenbeitragsbescheid rechtswidrig ist, bleibt der Entscheidung durch die Instanzgerichte nach der Gesetzesänderung vorbehalten. In anderen Verwaltungsverfahren dürfen Gerichte und Verwaltungsbehörden die Norm nicht mehr anwenden, laufende Verfahren sind auszusetzen.

Kommunen, die für technisch fertiggestellte Erschließungsanlagen noch keine Erschließungsbeiträge erhoben haben, sollten dringend prüfen, ob sie vor dem Hintergrund dieser Entscheidung zeitnah ein entsprechendes Verfahren einläuten. Angesichts der Spanne der in anderen Bundesländern geltenden Höchstfristen zwischen 10 und 20 Jahren ab Eintritt der Vorteilslage könnte die Erhebung von Beiträgen bald nicht mehr möglich sein.